#Chemotagebuch: Ein Fake?

Es gibt Momente, wo das Internet dermaßen sozial ist, dass man es liebhaben muss. Wenn schnell und unbürokratisch geholfen wird. Von Mensch zu Mensch, von Peer 2 Peer. Wenn todkranke Menschen über Facebook und Twitter an ihrem Krankenbett Besuch aus der ganzen Welt bekommen. Man ihnen Bilder und Lieder schickt, über hunderte Kilometer hinweg.

Das soziale, das liebenswerte Internet, das gibt es eben auch, und diese Tatsache überstrahlt auch manche Schattenseiten der sozialen Netzwerke, die wir mit Mobbing, Shitstorm und Falschmeldungen auch zur Genüge kennen.

Gerade deshalb ist der Kleinkrieg um Glaubwürdigkeit zwischen @ddhilfe und @mia929292 keine Kleinigkeit. Beide Namen, die Deutsche Direkthilfe in Bonn und Mia Mo aus Zürich, beide stehen für das, was wir am Internet für liebenswert halten.

Die Erstere ist geradezu ein Modell der Hilfsorganisation 2.0. Unbürokratisch, menschlich – eben direkt soll Hilfe geleistet werden. Kein riesiger Spendentopf, der gemanaged werden muss, keine kostspielige Logistik um Kleiderspenden zu sammeln, zu lagern, zu sortieren und zu verteilen. Sondern direkte Vermittlung von hilfsbereiten Menschen an Hilfesuchende.

Die Zweitere eine junge Frau, krebskrank. Im eigentlich nicht zu gewinnenden Kampf gegen die unheilbare Krankheit klammert sie sich an die Fäden der Sozialen Netzwerke, die ihr Halt geben. Von über 3000 Followern auf Twitter erfährt sie Anteilnahme, Ermutigung – und wird mit Bildern aus der Welt da draußen versorgt: Katzenfilme, Sonnenuntergänge, Urlaubsfotos. Was junge Frauen mögen, was der kranken Mia ein Lächeln auf ihr blasses Gesicht zaubern soll.

Umgekehrt veröffentlicht sie dafür ihr #Chemotagebuch, Berichte aus ihrem Martyrium aus aggressiven Medikamenten, Nebenwirkungen, Komplikationen, Klinikaufenthalten, Komaphasen – um dann wieder ihr hoffnungsvolles Aufbäumen zu schildern,  die Vitalität eines jungen Menschen, der sein Leben nicht wegschenken will. Man muss ein Herz aus Stein haben, wenn einen dies nicht berührt.

Als es sich anbahnte, dass beide sich finden, die Direkthilfe und Mia Mo, könnte das zu einem regelrechten Märchen 2.0 werden. Über die Hilfsorganisation könnte man dann nicht nur virtuell Blumen an Mias Bett schicken, sondern echte. Man könnte unter den Followern auch zusammenlegen, wenn sie ein Hilfsmittel bräuchte, das die Kasse nicht zahlt. Vieles, fast alles schien möglich.

Um so härter war dann der Aufprall in der Realität, und bis heute ist letztlich nicht geklärt, was eigentlich wahr ist und was gelogen, wer vertrauenswürdig ist und wer hier mit der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe vieler Menschen ganz eigene, womöglich dubiose Ziele verfolgt.

Jedenfalls wurde ein Treffen zwischen einem Verteter der Direkthilfe und Mia Mo angebahnt, und das Ergebnis war niederschmetternd.

Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe. Zunächst gab es erstaunte Rückfragen: Wirklich? Echt? Ernsthaft? Wie meint ihr das, nur vorübergehend oder ist sie in Wahrheit kerngesund und gaukelt uns ihre ganze Krebsgeschichte nur vor?

Die Deutsche Direkthilfe legt sich fest: Mia ist ein realexistierender Mensch, der aber seine Krebsgeschichte und sein Chemotagebuch mehr oder minder frei erfunden hat, um Aufmerksamkeit zu erringen. Sie wirft ihr sogar vor, in betrügerischer Absicht versucht zu haben, auch Geld- und Sachleistungen der Hilfsorganisation erschleichen.

Was dann folgt ist eine zweigeteilte Reaktion: Die einen wenden sich enttäuscht von Mia Mo ab. Weil sie (zunächst) zu den Vorwürfen schweigt, und eine öffentliche Klarstellung schuldig bleibt, nehmen sie an, dass die Behauptung stimmt, und die mit „Candies“ beworfene Kranke findet sich in einem veritablen „Shitstorm“ wieder. Das soziale Netz kehrt sich gegen sie.

Aber nicht alle reagieren so. Ein Teil wendet sich auch gegen die Direkthilfe selber. Ohne dass Mia ein Wort zu ihrer Verteidigung gesagt hätte (und niemand muss etwas sagen, wenn er angeklagt ist), richten sich legitimerweise auch prüfende Blicke auf den Ankläger.

Arbeitet denn die Deutsche Direkthilfe transparent? Die Satzung ist sehr kurz gehalten, die Mitglieder bis auf die Vorsitzende nicht namentlich genannt,  die Finanzen und Enscheidungswege bleiben im Internen. Dubios, so finden einige User, und glauben bis zum Beweis des Gegenteils kein Wort von den Behauptungen der Direkthilfe.

Tatsächlich reagiert der Verein auf kritische Nachfragen ausgesprochen dünnhäutig, was immer kein gutes Zeichen ist. Doch nach Auskunft seiner Homepage ist er gemeinnützig vom Finanzamt anerkannt und berechtigt, Spendenquittungen auszustellen. Steuernummer und Vereinsregister sind öffentlich. Also ein rein privates Unternehmen zur Geldgewinnung und Weitergabe nach Gutdünken scheint es auch nicht zu sein.

Ein über die Finanzamt-Entscheidung hinaus anerkanntes Siegel, wie zum Beispiel das des DZI fehlt. Allerdings sind Zertifizierungen auch ein erheblicher bürokratischer Aufwand, der dem Credo der Direkthilfe, mit gerade schlanker Struktur un-bürokratisch zu helfen, zuwiderläuft. Doch in einer Glaubwürdigkeitskrise wäre das sicher hilfreich.

Zuletzt muss aber auch die Frage gestellt werden, warum viele virtuelle Freunde von Mia Mo es auch nicht wahrhaben wollen, dass sie möglicherweise getäuscht wurden. Das hat auch emotionale Gründe. Menschen wollen nett sein, wollen sich sorgen, wollen Gutes tun.

Interessanterweise gelingt es ihnen nicht immer im persönlichen Umfeld. In ihren direkten Beziehungen verhindert die Reibung an eigenen und anderen Unzulänglichkeiten den freien Fluss der Liebe. Eine Person wie Mia kann gerade in ihrer rein virtuellen Existenz ein Kristallisationspunkt all unserer ungelebten Liebe werden.

Sie wird mit allem Guten überhäuft, für das wir im wirklichen Leben keinen Abnehmer zu finden glauben. Jedenfalls keinen würdigen, wertschätzenden, unschuldigen und ausreichend bedürftigen Abnehmer.

Hier sollten wir uns alle selber fragen, warum das so ist. Und was es mit uns macht, wenn eine vom Tode gezeichnete Heilige, dieses engelsgleiche Wesen aus den Sphären des Internets eine kerngesunde Hausfrau im Einfamilienhaus ist. Sicher ist sie eine Betrügerin, aber es gab auch viele, die diesen Betrug irgendwie brauchten? Wer handelt eigentlich selbstsüchtig, wenn Helfer das Helfen nicht lassen können, sind sie doch auch in gewisser Weise Süchtige, oder?

Noch ist die letzte Klarheit nicht hergestellt, aber sollte Mia Mo am Ende genauso unwürdig der ganzen Liebe sein, könnte wir vielleicht ja doch im eigenen Umfeld suchen, ob jemand sie nicht ebenso gut bekommen könnte.

Ehe wir uns den nächsten unschuldigen Engel aus dem Internet suchen.

 

8 Antworten zu „#Chemotagebuch: Ein Fake?”.

  1. Auch ich war einer der Kritiker von der Direkthilfe.

    Mittlerweile hat Mia ja 3 Tweets geschrieben und sich verabschiedet. Für mich ist mit dieser Reaktion klar dass sie wirklich – zumindest teilweise – gelogen hat. Das genaue Ausmaß lässt sich nicht so einfach abschätzen, man kann nur erahnen oder vermuten.

    Trotzdem ist das was Direkthilfe getan hat bzw. wie sie reagiert haben auf Nachfragen und Kritik nicht okay. Das sie recht hatten macht das was danach kam nicht besser oder seriöser.

    Ich kannte Mia vorher gar nicht und die Direkthilfe hatte ich nur so „nebenbei“ durch den einen oder anderen retweeteten Aufruf in der Timeline. Gestern kamen dann in Wellen Empörung und Beleidigungen in meine Timeline gespült.
    Klar dass man dann auch selber mal genauer hinguckt und sich fragt „Was ist da eigentlich los?“

    Auch auf meine, sehr ruhig und sachliche Nachfrage nach konkreten Beweisen oder Fakten, wurde mir nicht geantwortet. Also da werde ich dann skeptisch. Was meint ihr denn was los wäre wenn Akte oder Panorama o.ä. einfach Dinge behaupten würden ohne IRGENDETWAS vorweisen zu können oder wollen? Wie man das vorgelegte interpretiert, ist dann noch mal was anderes – Aber ich kann mich doch auch nicht einfach hinstellen und sagen „Die Frau nebenan macht dies und das und ist in Wirklichkeit gar nicht…“ ohne Beweise vorzulegen? Da werde ich doch ausgelacht?!

    Wenn die ddhilfe gesagt hätte „wir verstehen dass einige ungehalten reagieren, aber wir können/wollen nichts öffentlich machen“ und dann ansonsten nicht reagiert hätte.. wäre sicher auch schnell Ruhe gewesen.
    Nein, statt dessen twitterten sie „Wir verstehen gar nicht das einige uns angehen anstatt uns zu bemitleiden wel wir reingelegt wurden“ (nicht wörtlich zitiert)
    Und danach fing das gestänkere ja erst richtig an. Da wurden seitens Direkthilfe Leute für einfache nachfragen sehr übel beleidigt, psychische Krankheiten unterstellt, mit Anzeige oder einem „persönlichen“ Besuch gedroht… Öhm… sowas erwarte ich von Don Giovanni dem Minimafiosi, aber doch nicht von einer humanen Non-Profit-Organisation!

    Die Direkthilfe hat meine Nachfragen ebenfalls ignoriert. Allerdings wurde mir geraten die Tweets nachzulesen, was ich auch getan habe. Für mich ergibt sich da ein Bild das nicht schwarz und nicht weiß zeigt.
    Die Direkthilfe ist auch nicht ohne Schuld. Was wirklich gelaufen ist wird man nie erfahren, vor allem da die Direkthilfe keinen Klartext redet. Für MICH sieht es so aus als habe die Direkthilfe sich an Mia angehängt. Der erste Kontakt ging offenbar bzw. vermutlich(?) von der Direkthilfe aus, jedenfalls sieht es so aus dass die Direkthilfe Mitte Oktober auf einen ihrer Tweets geantwortet hat. Die Frau hat nicht (zumindest nicht öffentlich) um Hilfe gebeten, sie hat genau 3 Reply’s an die Direkthilfe geschrieben die alle sehr oberflächlich waren.
    Die Direkthilfe hat ab da fast täglich an sie getwittert, getweetet in welchen Krankenhaus sie (angeblich) liegt, das Krankenhaus kontaktiert… egal ob Fake oder nicht – ich würde es als Belästigung empfinden wenn mich jemand so antwittert und mir hinterher geht.
    Aber wie gesagt – das ist nur die Einschätzung der Dinge die man öffentlich lesen kann. Ich weiß nicht was per DM oder Email lief, daher wäre es echt toll gewesen wenn die Direkthilfe mal konkreter geworden wäre und einiges konkreter gesagt hätte. Da muss ja kein Screenshot von privaten Mails veröffentlicht werden, aber so umrissen in eigenen Worten wäre der Aufklärung schon sehr zuträglich.

    Die Direkthilfe tut sich auch selbst keinen Gefallen wenn sie, anstatt Leute (oder deren Fragen) die ihnen nicht gefallen zu ignorieren, statt dessen ausweichend und kryptisch antworten, sie beleidigen oder sogar noch bedrohen oder sogar private Daten ungefragt veröffentlichen!

    Da sind auch noch so Fragen die wohl unbeantwortet bleiben werden:
    1. Hat Mia um Hilfe gebeten?
    2. Hat Mia Hilfe erhalten?
    3. Wenn Ja – welche Hilfen?
    4. Hat sie nur gelogen bezüglich den Aufenthaltes oder eben wegen allem inkl. Krankheit?
    5. Wieso veröffentlicht die Direkthilfe keine Finanzberichte? Sonst wollen die Spender a auch von jeder Organisation wissen wie ihr gespendetes Geld verwendet wird, hier nicht?
    6. Wieso agiert die Direkthilfe so hitzköpfig und unüberlegt? Von erwachsenen Menschen die Humanitäre Hilfe leisten erwarte ich etwas anderes.

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    1. Naja, der Charme und die Schwäche der DDHILFE ist wohl ihre Unprofessionalität. Aus einem Tweet wird deutlich, dass womöglich die Hilfe selber CHF an Mia gezahlt hat, warum sonst sollten sie jetzt einen Schadensersatz fordern wollen?
      https://twitter.com/ddhilfe/status/667783352582316034
      Ich glaube wirklich, dass sie um echte Hilfe bemüht sind, aber sie müssen professioneller werden, auch wenn es Charme-Faktor kostet. Das ist eben doch mehr als Nachbarschaftshilfe, was die leisten wollen.

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    2. Sehe ich komplett auch so.

      Deine Frage 4 ist sehr wichtig. Was, wenn Mia (die auch ganz anders heißen kann und evtl. deshalb nicht in den Krankenhausakten gefunden wird) die ddhilfe zu aufdringlich wurde? Wenn sie nur ihre Information über ihren Ort verändert hat, um sich zu schützen?

      Würde ich ein Chemotagebuch schreiben, würde ich bestimmt nicht meinen Namen und das Krankenhaus angeben, schon von Anfang an nicht, denn eine Welle der gutgemeinten Hilfsbereitschaft würde mich, schwerkrank, wahrscheinlich überfordern. Und wenn dann auch noch eine Organisation wie die ddhilfe sich an mich wirft, würde ich die auch bestimmt nicht aufklären.

      Ich fände gut, wenn das DZI den Verein durchleuchten würde.

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  2. Sie hat am 13. Oktober die Klinik gewechselt.

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    1. Ihre letzten Tweets bestätigen jedenfalls, dass sie tatsächlich zu Hause ist.

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  3. Was für ein weiser Text, der weder verurteilt noch verdammt. Besonders der letzte Teil ist krass: Wohin mit unserer Liebe? Ja, virtuell scheint es viel einfacher.

    Danke dir!

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  4. Aber was heißt es, wenn sie wieder zuhause ist? Das heißt doch noch lange nicht, dass sie ihre Krankheit vorgetäuscht hat.

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