Was für ein Pathos, habe ich jedes Mal gedacht, als ich den Titel des irgendwo geerbten Buches in meinem Regal sah. Aber damals war das so. Nach dem zweiten Weltkrieg waren alle staatlichen Institutionen kaputt, die Vereinsstrukturen komplett nazifiziert und die einzige, wenn auch wirklich nur halbwegs intakte Organisation, die den gesellschaftlich/sozialen Part des Wiederaufbaus schultern konnte, war die Kirche.
Die Herausforderungen waren enorm, Trauerarbeit nach Verlust von schier unglaublich vielen Menschenleben in jedem einzelnen Dorf. Vermisste, Gefangene, Verwundete deren Schicksal ungewiss war. Heerscharen von Flüchtlingen, die integriert werden mussten. Mangel an Unterkunft, Nahrung, Brennstoff – an allem. Und die Aufgabe, ein friedliches, demokratisches Gemeinwesen zu gründen.
So schlimm ist es heute nicht. Deshalb verwende ich den Titel auch mit einem Fragezeichen. Der Staat funktioniert, Vereine und Verbände sind demokratisch und bürgerlich organisiert, die Wirtschaft brummt und von ein paar Schlaglöchern und maroden Brücken abgesehen ist die Infrastruktur intakt. Würde Deutschland ohne Kirche untergehen? Nicht sicher.
Dennoch gibt es nur wenige Momente in der Geschichte unserer Republik, in denen sie so wichtig war wie heute. Klar, damals am Anfang, dann bei der Integration von Studenten- Friedens- und Ökobewegung, vielleicht noch zur Wiedervereinigung oder nach den Anschlägen vom 11. September. Aber dann war’s das auch schon.
Heute ist die gesellschaftliche Aufgabe die Flüchtlingskrise. Und auch wenn das im Ausland gerne behauptet wird: Deutschland hat diese Krise nicht verursacht, die Menschen kamen auch ohne Einladung. Auf die Rolle der Türkei habe ich dabei schon hingewiesen. Der einzige Vorwurf, den man Merkel machen kann, war dass sie nicht kaltblütig genug war, die Menschen vor den Grenzen Europas in Massen sterben zu lassen.
Ein Vorwurf, den ihr die Kirche nie machen wird, und schon das macht sie zum natürlichen Verbündeten der Politik der Kanzlerin. So sehr Kirche und die Christen um die Gefahr durch muslimische Fanatiker wissen, so sehr sie auch im Blick haben, welches Unrecht Christen in islamischen Ländern widerfährt: Sie sehen in flüchtenden Syrern, Afghanen und Nordafrikanern zunächst Menschen in Not.
Und so reden sie nicht nur, sie handeln auch. Kirchlich engagierte und christlich sozialisierte Menschen bilden einen wesentlichen Teil des Heeres von Ehrenamtlichen, die unsere Gesellschaft beim Andrang der mittlerweile in die Million gehenden Flüchtenden vor dem Kollaps bewahrten. Die ja tatsächlich vorhandenen „Kapazitätsgrenzen“ von denen immer wieder die Rede ist, wurden durch ihren Einsatz immer weiter nach oben korrigiert.
Nach einer nicht repräsentativen Umfrage unter Kolleginnen und Kollegen sowie anderen engagierten Christinnen und Christen kenne ich keine Gemeinde, die nicht selbst oder durch Geld, Mitarbeitende und Sachspenden direkt an der Flüchtlingshilfe beteiligt ist. Räume werden umfunktioniert, Planstellen geschaffen, es wird Koordinations und Supervisionsarbeit geleistet. Von viel Seelsorge- und Überzeugungsarbeit in unzähligen Predigten, Gemeindebriefartikeln und Gesprächen ganz zu schweigen.
In fast jeder Kirche, jedem Versammlungssaal, wurde am Heiligen Abend vor maximal möglichem Publikum das Schicksal von Maria und Josef mit dem Jesuskind auf die Flüchtlingsproblematik bezogen. Sie fehlen bis heute in kaum einer Fürbitte, ob Volkskirchengottesdienst oder Allianz Gebetswoche. Kaum ein Beerdigungskaffeetrinken, kaum eine Jahreshauptversammlung der Freiwilligen Feuerwehr, kaum ein Besuch anlässlich von Geburtstag, Taufe oder Ehejubiläum, bei dem nicht die Flüchtlingsfrage früher oder später aufkommt.
Auch die Fachkompetenz in Religionsfragen wird plötzlich wieder nachgefragt. Hat man sich womöglich früher mal gefragt, wozu man eigentlich Theologie studiert hat, wenn man als Dorfpastor vor allem Bier und Kaffee trinken muss, so wollen die Menschen heute plötzlich Auskünfte über das Wesen von Religion, Unterschiede zum Islam, die Bedeutung verschiedener Strömungen im Christentum, Gewaltverse in der Bibel und dergleichen mehr.
Von der obersten Spitze, den wichtigsten Repräsentanten in Papst, Bischöfen und Synodenpräsidenten bis in die Arbeit der unzähligen Ehrenamtlichen und den Spenden der Gottesdienstbesucher zeigt sich eine einheitliche Linie: Die Flüchtlinge müssen aufgenommen, versorgt und integriert werden. Und das auch angesichts von Widerständen und Rückschlägen.
Ohne Frage machen Nachrichten von sexuellen Übergriffen, internen Streitigkeiten unter Flüchtlingen und Ausländerkriminalität Sorgen. Sie werden auch keineswegs ausgeblendet oder ignoriert. Aber die Ehrenamtlichen sind auch keine euphorisierten Spinner, sie handeln nicht in einem Wohltätigkeitsrausch. Sondern wenn es eine Mitte der Gesellschaft gibt, dann finden wir sie hier: Hausfrauen und Ärzte, Politiker und Rentner, Selbstständige und Studenten.
Und allesamt sind sie sehr nüchtern bei der Arbeit.Glaubt denn irgendwer, dass Menschen die jeden Tag mit Flüchtlingen zu tun haben, wüssten nichts über die Probleme? Dass es unter den Ankömmlingen etliche mit einem verheerenden Menschen-, Frauen-, Israelbild gibt? Wer sonst redet denn täglich mit ihnen? Nur gehen die Helfer eben rational und lösungsorientiert vor. Zurückschicken ist keine Option, also muss man ihnen beipulen, wie Leben hier funktioniert. Und das wird getan, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat schon ein Jahr lang.
Kirche ist bei diesem Einsatz nicht allein. Es wäre unverzeihliche Arroganz den nicht kirchlich gebundenen Helfern gegenüber, nun alles Engagement auf das Christentum und seine Organisationen zurückzuführen und zu vereinnahmen. Aber umgekehrt stimmt es: Kirche nimmt sich selber wieder wahr als Gemeinschaft der Christen, die hier und jetzt gefordert ist, eine Aufgabe hat, und sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen darf (das können wir sonst sehr gut).
Und Kirche wird wieder als Partner wahrgenommen, von Politik und Verbänden, von Journalisten und Hilfsorganisationen. Ihr Netzwerk (speziell im Westen) hat immer noch die meisten Knoten, ihre Fähigkeit, Menschen zu erreichen, zu mobilisieren und zu koordinieren ist gerade auf dem Land oft konkurrenzlos. Diese Wertschätzung ist ungewohnt und tut gut.
Doch am Ende muss noch Wasser in den Wein: Ein Problem der Kirche, dass die Schere zwischen den engagierten Christen und ihren stumm zahlenden Mitgliedern sich weiter öffnet, ist womöglich die Kehrseite der Medaille. Denn es gibt die „besorgten Bürger“ auch in unseren Kirchengemeinden. Hier droht der Gesprächsfaden fast völlig abzureißen.
Diese Menschen, die sich (mehr oder weniger berechtigt) irgendwie „abgehängt“ fühlen, beobachten das erwachende Engagement der Kirche mit Argwohn. „Wann hat Kirche sich um mich gekümmert?“ fragen sie, die formal Mitglied waren, aber nie ein Angebot von Kirche für sich angenommen haben. Weil Kirche sich in ihrer intellektuell-linken Art schon längst von ihrem Denken und Meinen entfernt hatte.
Kirche hat einen Ruf auch zu den Abgehängten. Ihnen zuzuhören ist eine seelsorgerliche Aufgabe, die längst nicht so schön und nett ist. Man ist dann nicht bei den Guten Aber das hat Jesus seinerzeit auch nicht interessiert. Man befinet sich aber auf einer Gratwanderung: Zuhören ja, verstehen wollen auch. Verständnis, aber womöglich Zustimmung zu Ressentiments, ja womöglich offenen Hass ist dagegen fehl am Platze.
Es ist noch völlig offen, wie das funktionieren soll, im Engagement nicht nachzulassen und gleichzeitig besorgten Bürgern, wie sie so gerne genannt werden, ein Ohr, womöglich auch eine moderate, vermittelnde Stimme zu geben. Ein Teil der Aufgaben, die auf uns zukommen könnten, dürfte tatsächlich auch Versöhnungsarbeit sein. Denn die Lagerbildung über die Flüchtlingsfrage ist unübersehbar. Gewalteruptionen eingeschlossen.
Und damit die letzte Aufgabe für Kirche: Der Hass der selbsternannten „Verteidiger des (christlichen) Abendlandes“ richtet sich mittlerweile auch gegen alle, die das „Refugees Welcome“ predigen und praktizieren. Also auch gegen die Kirchen, ihre Pastorinnen und Pastoren und alls haupt- wie ehrenamtlichen Mitarbeiter. Der Aufruf Tatjana Festerlings, die „volksverräterischen und volksverhetzenden Eliten…aus den Kirchen (zu) prügeln“ ist der erste öffentliche Aufruf zu Pogrom gegen Christen, der mir aus der jüngeren Geschichte unsere Landes bekannt ist.
Es ist eine bittere Ironie, dass diejenigen, die sich uns in der Verurteilung der Verfolgung von christlichen Minderheiten im Orient als Verbündete andienen, ihrerseits hierzulande nichts anderes vorhaben, als gewaltsam gegen Gotteshäuser vorzugehen. Die Islamkritik mündet in Religionskritik insgesamt, und der Furor des Kreuzzuges erfasst nun die vermeintlichen Anhänger von Aufklärung und abendländischen Werten. Von den Mistgabeln zu Molotowcocktails und Baseballschlägern ist nur ein kleiner Schritt.
Gewaltfrei handeln, gewaltfrei reden, gleichzeitig bereit sein zum zivilen Widerstand gegen alle Feinde der Kirche, alle Verfolger der Christen, unter welchem Banner sie auch immer den Hass und die Gewalt predigen – das ist eine Aufgabe, die ganz von allein auf uns zu kommt, wenn Christen den Weg der Nachfolge Jesu weiter gehen.
Heidelbaer
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