Der Suizid von Al-Bakr in der Untersuchungshaft der JVA Leipzig wirft viele Fragen auf, auch theologische. Denn Selbstmord ist für Muslime haram, verboten, ausgeschlossen. Kann also ein vermeintlicher Muslimfundamentalist, dem sogar Kontakte zur fundamentalistischten aller fundamentalistischen Terrorgruppen dem sogenannten „Islamischen Staat“ zugetraut werden, wirklich einen echten Selbstmord begehen. Sich in der eigenen Zelle erhängen?

Auf den ersten Blick vielleicht schon: Warum soll ein potentieller Selbstmordattentäter nicht Selbstmord begehen, fragt provokant die Journalistin Elke Wittich auf Twitter. Aber die Terror-Theologen von Al-Qaida, IS, Hamas und Hisbollah sind sich darin einig, dass der absichtlich herbeigeführte Tod eines Kämpfers bei einer militärischen Aktion gegen die Ungläubigen eben kein Suizid im eigentlichen Sinne sei. Deshalb werden diese Täter auch als Märtyrer verehrt.

Der einsame verzweifelte Freitod eines gescheiterten Attentäters dagegen kann kaum die Gloriole eines Märtyrertodes vergolden. Keine 72 Jungfrauen erwarten Al-Bakr im Jenseits, er muss im Gegenteil mit dem Zorn Gottes rechnen, sein Leben, das nur Gott gehört, in die eigene Hand genommen zu haben. Eine schwere Sünde. Keine Huris, sondern Hölle.

Es ist deshalb spannend abzuwarten, wie die so rege Öffentlichkeitsarbeit des IS auf den Tod Al-Bakrs reagiert. Wird sie ihn schweigend übergehen, und ihn aus der Reihe ihrer Märtyrer streichen, also seine Höllenstrafe für Suizid stillschweigend akzeptieren? Wird sie den Tod als heldenhaften Ausweg eines professionellen Agenten gegen (wie auch immer) erzwungene Aussagen gegen seine Auftraggeber und Brüder im Kampfe verklären? Oder wird sie sich in die Reihe der Verschwörungstheoretiker einreihen, und von einer Ermordung Al Bakrs in Gefangenschaft schwadronieren, was ihm dann zu höchsten Märtyrer-Ehren gereichen sollte?

Die Außendarstellung ist aber das eine, die innere Frage, wie ein fundamentalistischer Muslim dazu kommt, an sich selber Hand anzulegen, ist die andere. Natürlich gibt es Gründe genug für ihn: Er ist gescheitert, er muss damit rechnen lange verhört zu werden, vielleicht fürchtet er auch Folter (dass sich westliche Sicherheitsdienste an die Menschenrechte halten, glaubt in Syrien niemand). Und vielleicht war er ohnehin psychisch labil.

Aber gerade als fundamentalistischer Muslim? Ist da die Gewissheit, in der Hölle zu landen nicht eine haushohe Hürde, die einen jede Hölle auf Erden ertragen lässt, ehe man sich die Qualen für alle Ewigkeit einbrockt?

Zunächst muss man festhalten, dass das religiöse Verbot von Suizid und das Drohen mit Höllenqualen noch nie geholfen hat, wirklich am Leben verzweifelte von diesem Schritt abzuhalten. Im Christentum nicht, im Islam nicht, im Judentum auch nicht. Aber eine zweite Unterscheidung scheint mir fast noch wichtiger.

Es gibt einen Unterschied zwischen einem frommen Muslim und einem fundamentalistischen Muslim. Diese Unterscheidung wird so dermaßen oft übersehen, dass man nicht deutlich genug darauf hinweisen kann, dass dazwischen Welten liegen. Man könnte sich zu der Aussage versteigen: Wer als Muslim fromm ist, ist kein Fundamentalist, wer als Muslim Fundamentalist ist, ist nicht fromm.

Das wird vielleicht auch deshalb miteinander vermischt, weil bei uns Christen die Grenzen fließend zu sein scheinen, besonders fromme Christen werden als Fundis bezeichnet, und die fundamentalistischen Christen betrachten sich auch als besonders fromm. Aber auch das halte ich für einen Etikettenschwindel.

Denn Fundamentalismus ist stets ein Surrogat für echte Frömmigkeit. Ein billiger Ersatz. Frömmigkeit bedeutet eine große Hingabe, eine tiefe Beziehung zu Gott, ein ehrfürchtiges sich Einlassen auf sein Wort, ein demütiges  Erfüllen-Wollen seines Willens, eine Sehnsucht nach Nähe zu Ihm und die Suche nach Gemeinschaft auf diesem Weg.

Fundamentalismus dagegen ist gescheiterte Frömmigkeit. Fundamentalisten spüren ihre Unfähigkeit, ja förmlich ihren Unwillen, Gottes Nähe zu erleben, seinen Willen zu erfüllen, sich auf Gemeinschaft einzulassen. Wo sie auftauchen spielen Oberflächlichkeiten plötzlich eine Riesenrolle, und Spaltungen greifen um sich, Frömmigkeit, Friede und Liebe wird ersetzt durch Gesetzlichkeit, Hass und Gewalt.

Dass Fundamentalismus und geradezu abartige moralische Verfehlungen deshalb zusammengehören, und kein Widerspruch sind, darauf muss eigentlich gar nicht erst hingewiesen werden.  Es wird ein oberflächlicher Moralkodex aus einem primitiven Schwarz-Weiß-Schema über die komplexe Welt gelegt, der nur dazu dient, sich selbst ins Licht und alle anderen in tiefste Finsternis zu setzen.

Aus Hingabe zu Gott wird Gehorsam zu einem Regelsystem, Unterwerfung unter Auslegungsautoritäten und gleichzeitig die Erlaubnis alles erdenklich Böse zu tun, was nicht verboten, oder womöglich ausdrücklich erlaubt, wenn nicht sogar „Gottes Wille“ ist.

Das Neue Testament schildert die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern als Konflikt mit genau dieser Denkweise: „Ihr gebt den Zehnten von Kümmel und Minze, aber bleibt die Liebe schuldig“ bezieht sich auf das Scheitern an der wirklichen Frömmigkeit und ihren Ersatz durch äußerlich handhabbare Normen. Sein Widerstand gegen jene, die mit Lust Menschen steinigen wollen, weil es doch Gottes Wille sei, richtet sich gegen die, die das Böse tun und es gut nennen wollen.

Das ist, nebenbei gesagt, kein Konflikt zwischen Judentum und Christentum, sondern ein innerjüdischer Konflikt zwischen Jesus und seinen fundamentalistischen Glaubensbrüdern, der dann als innerchristlicher Konflikt bis heute weitergeht. Generationen von Auslegern haben das übersehen, mit der Folge dass man blind war für die jüdische Frömmigkeit – und den eigenen Fundamentalismus.

Aber gerade das starre Moralsystem, das über den Kadaver gescheiterter Frömmigkeit gestülpt wird, sorgt für Fäulnis- und Gärprozesse, die zu einer moralischen Verkommenheit führen können, die selbst hartgesottene Agnostiker und Hedonisten wie Heilige dastehen lässt. Sexueller Missbrauch, Gewalt, Suchtexzesse – unter der Oberfläche tun sich Abgründe auf. Sie richten sich nach innen, gegen die schwächsten in der Gemeinschaft, oft Frauen und Kinder – und sie richten sich nach außen, gegen die Ungläubigen, die Verräter, die Abtrünnigen.

Es ist kein Zufall, kein Widerspruch, dass man die Attentäter vom 11.09.2001 beim Trinken von Alkohol gefilmt hat, es ist kein Zufall, wenn TV-Prediger der US-Fundamentalisten in Pädophilennetzwerken auftauchen, es ist kein Wunder, dass sichergestellte Smartphones von IS-Kämpfern hauptsächlich Pornomaterial auf dem Speichermedium hatten.

Und deshalb ist es auch leider nur allzu plausibel, dass Al-Bakr sein Leben selbst ein Ende gesetzt hat. Als Fundamentalist ein gescheiterter Mensch auf der Suche nach Gott, nach Sinn, nach Gemeinschaft. Sein Surrogat, die Droge von Gewalt, Blut und Zerstörung wird ihm weggenommen. Nun ist er ganz allein mit seiner selbst empfundenen Schlechtigkeit. Der Hass, die Gewalt richtet sich letztlich gegen ihn selbst mit tödlicher Konsequenz.

Helfen kann, wer sich so fühlt, vielleicht das Studium von Paulus. Denn der geht den umgekehrten Weg: Ein gescheiterter Fundamentalist auf dem Weg zu Frömmigkeit. Haben Sie ihn mal so gelesen? Es lohnt sich.

Heidelbaer

4 Antworten zu „Selbstmord eines Islamisten?”.

  1. […] Quelle: Selbstmord eines Islamisten? – Philippika […]

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  2. In der Logik der Terrororganisation ISIS kann es durchaus sein, dass ein Selbstmord als Märtyrertod gilt: Wenn der Attentäter gefangen ist und wenn die Gefahr besteht, dass er etwas verraten könnte, begeht er Selbstmord. Somit wird er zum Märtyrer, denn er ist seinen Weg bis zuletzt gegangen.

    Die Logik der Terrororganisation ISIS ist in meinen Augen NICHT deckungsgleich mit der Logik eines gläubigen Muslims. Nicht nur die Exzesse mit Alkohol, Drogen und Pornos – auch die Vergewaltigungen und die Versklavung von Frauen sind nicht mit dem islamischen Glauben vereinbar. Um die Verbrechen zu begründen, werden einzelne Zeilen der Überlieferungen aus dem Zusammenhang gerissen.

    Ich denke aber, dass wir uns als Christen, Agnostiker oder Atheisten andererseits auch nicht an den Buchstaben »festhalten« sollten, die wir aus dem Koran herauslesen wollen. Die 72 Jungfrauen sind eine Phantasie aus der Zeit vor 1.300 Jahren und wir wissen nicht wirklich, ob die Attentäter daran gedacht haben.

    Manche Gegner des Islam nehmen den Koran wörtlicher als der moderate, gebildete Teil der Muslime …

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    1. Viele Islamkritiker nähern sich mit der selben Fundi-Hermeneutik dem Koran wie die Salafisten. Schade, dass der Aufschrei gegen diese Koranschändung so wenig hörbar ist.

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  3. Hat dies auf Waltkaye: A blog about depression, feelings etc rebloggt und kommentierte:
    Interessantes zu meinem Thema, völlig andere Perspektiven.

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