Warum eigentlich? In der Türkei sieht man ein klares Bild, der kurdische Osten und der liberale, eher europäische Westen stimmt mit Nein, die ländlichen Regionen mit Ja – und das mit einer so überwältigenden Mehrheit, dass sie die knappe Mehrheit in den Städten und die komfortable Mehrheit in den kurdischen Regionen brechen können.
Aber ein Zünglein an der Waage könnten auch die Auslandstürken gewesen sein. Die stimmten in Deutschland und Österreich mit großer Mehrheit Ja. Für ein Präsidialsystem mit quasi-diktatorischen Vollmachten für Erdogan. Das erscheint unlogisch. Sie müssten doch theoretisch noch europäischer sein als er Westen der Türkei. Außerdem haben Sie besseren Zugang zu freier Presse, erfahren aus den deutschem Medien, wie kritisch Erdogan gesehen wird.
Die Gründe sind womöglich komplex. Ein ganz einfacher Grund ist, dass man sich zum Wählen beim Konsulat oder der Botschaft registrieren lassen muss. Es gab offenbar schwarze Listen vom türkischen Geheimdienst, die dazu führten, dass Pässe kommentarlos eingezogen wurden. Das bedeutete nicht nur eine Stimme weniger, sondern eine klare Drohung: Wer sich unvorsichtig äußert, verliert seine Möglichkeit als Türke in die Heimat zu reisen.
Das hat die türkische kritische Öffentlichkeit auch in Deutschland beeinflusst. Außer kurdischen Aktivisten und wenigen ohnehin bekannten Kritikern Erdogans wurde es still um das Nein-Lager. Kaum einer mochte sich öffentlich kritisch äußern – und so entstand eine gefühlte Einsamkeit: Zu den kurdischen Aktivisten wollte man nicht gehören, und wenn eigentlich alle Türken hierzulande für Ja sind, liege ich vielleicht falsch.
Ein anderer Grund, den ich in Gesprächen gehört habe, hat mich allerdings noch nachhaltiger irritiert. Viele hiesigen Türken haben eine beinahe rassistische Sicht auf ihre Heimat. Ja, hier in Europa funktioniert Demokratie, und sie wollen auch nichts anderes haben hier als Parlamentarismus, freie Presse, demokratische Parteien. Wenn sie auch einen deutschen Pass haben wählen sie hier CDU, SPD, die großen Volksparteien.
Aber in der Türkei, so sagen sie (oft mit etwas gesenkter Stimme) da funktioniert das nicht. Die brauchen einen starken Mann dort. Der Erdogan ist genau der Richtige, und der kann soviel Macht haben wie er braucht, um die Militärs, die Islamisten, die Kurden. die Linken und die Kriminellen alle unter der Kontrolle zu behalten. Ohne ihn sehen sie ihre Heimat im Chaos versinken.
Also stimmen sie mit Ja, obwohl sie wirklich keine Feinde unserer Demokratie sind (das zu behaupten, tut ihnen Unrecht!). Man kann ihnen höchstens einen gewissen kulturellen Rassismus unterstellen: Dass sie ihre Landsleute für demokratieunfähig halten, ist ja schon ein starkes Stück. Allerdings ist es auch ein Erfahrungswert, dass Demokratien besser funktionieren, wenn ein gewisser Bildungsgrad und Wohlstand vorhanden sind.
Viele Türken, die hier leben kommen aber vom Land, nicht von den großen Städten. Sie wissen, wie es dort aussieht, wo die Hochburgen des „JA“ zum Präsidialsystem sind. Vielleicht ist einiges an ihrer Einschätzung sogar realistisch. Aber genau das sollte Ansporn sein, diese Verhältnisse zu ändern. Das geht aber nur mit Nähe, mit Kontakt, mit Handel, Entwicklung und Austausch.
Deutschland sollte die Türkei, sollte auch die Türken hierzulande nicht als demokratiefeindlich abschreiben. Die Kommunikationskanäle müssen offen bleiben. Aber rote Linien müssen gezogen – und im Falle des Falles auch durchgezogen werden. Wo die liegen? Zum Beispiel in der Frage der Todesstrafe. Sollte sie wieder verhängt und vollstreckt werden, erwarte ich ein lautes Türknallen aus Brüssel und Berlin.
Heidelbaer
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