Chemnitz war eine Zäsur

Am Anfang steht ein Tötungsdelikt. Ein junger Mann stirbt nach einer Auseinandersetzung am Rande eines Volksfestes. Das ist für ihn das gewaltsame Ende seines jungen Lebens, für die Familie eine Katastrophe, für seine Freunde und Bekannten ein schrecklicher Verlust. Dass niemand das als Bagatelle abtun wollte, merkte man auch an der Reaktion: Das Volksfest wurde vorzeitig beendet, die Polizei bildete eine Mordkommission, die Kirche öffnete ihre Türen, wahrscheinlich waren auch Notfallseelsorger im Einsatz. Gleichzeitig rücken Familie und Freunde zusammen. Sich halt geben angesichts des Verlustes, weiterleben lernen ohne einen Menschen, der doch eigentlich dazugehört.

Das ist gleichzeitig empathisch und professionell, ein Stück weit Routine, denn: So tragisch der gewaltsame Tod eines Menschen ist – dieser Tote war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, den wir zu betrauern haben. Der Tod gehört zum Leben dazu, und der gewaltsame Tod zur gefallenen Schöpfung. Wir leben nicht im Paradies, diese theologische Erkenntnis scheint manchen abhanden gekommen zu sein, die meinen, so etwas hätte in Deutschland nie und nimmer passieren dürfen. Doch, müssen wir sagen, Deutschland liegt jenseits von Eden. Damit müssen wir klarkommen, so weh das tut.

Aber das Besondere war nicht das Opfer, das Besondere waren die Täter. Flüchtlinge, also Menschen die hier Schutz gesucht haben vor Gewalt und Mord – und nun genau das in unsere Innenstäde bringen: Gewalt und Mord. Nicht alle, keineswegs, aber diese eben doch ganz konkret und brutal. Das schürt Emotionen, es ist auch nachvollziehbar, dass man von Schutzsuchenden erwartet, dass sie sich in dem Land, das Ihnen Schutz bietet, nicht so verhalten, dass man vor ihnen Schutz suchen muss. Das ist kein Rassismus, sondern gesunder Menschenverstand.

Allerdings ist Dankbarkeit in der Kriminologie, also in der Forschung wie es zu Gewaltverbrechen kommt, keine messbare Größe. So sehr es uns ärgert: allzu verwundert muss man nicht sein, dass Personen mit eine Häufung von Risikofaktoren kriminell werden: Männlich, jung, familiär ungebunden, sozial desintegriert, perspektivlos, finanziell unterpriveligiert: das ist der Stoff aus dem die Messerstecher sind.

Übrigens war das so schon immer, und bei allen Völkern der Erde. Die Kategorie „angry young men“ ist viel besprochen und besungen, ob man „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ intoniert oder „In the Ghetto“ von Elvis Presley: Wir brauchen nicht zu tun, als käme diese Sorte Kriminalität ganz neu und exklusiv aus dem Süden oder dem Orient. Allerdings ist uns in der kinder-armen Überflussgesellschaft diese Gruppe praktisch verloren gegangen, und sie taucht ganz neu bei uns wieder auf: herumlungernde junge Männer, die mit sich nichts anzufangen wissen und Streit suchen.

Deshalb ist eigentlich auch klar, was hülfe: Diese jungen Kerle brauchen Perspektive, sowohl familiär als auch beruflich, sobald diese freien Radikale in eine soziales Netz eingebunden werden, sinkt die Bereitschaft zur Gewaltkriminalität rapide. Nur gerade darin ist die Politik der Bundesrepublik kontraproduktiv – und die Stimmung im Land mittlerweile auch. Alles, wonach gesucht wird, ist eine konkrete Abschiebeperspektive: Wer kann wann, wie, wohin abgeschoben werden, das steht im Mittelpunkt der Diskussion.

Jochen Bittner hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Problem mit den als unbegleitet minderjährigen Flüchtlingen noch über die nächsten Jahre erheblich verschärft wird, weil die alle nur eine Duldung, aber kein Asyl und keine Bleibeperspektive haben. Dazu kommen die subsidiär schutzberechtigten, denen der Familiennachzug verwehrt bleibt, und wo über sichere Zonen im Herkunftsland diskutiert wird, die Dublin-Fälle – und tatsächlich auch die (Klein-)Kriminellen, die ihr Aufenthaltsrecht verwirkt haben.

Deutschland bekommt derzeit beides nicht hin: Weder eine gescheite Integration mit langfristiger Bleibeperspektive, noch eine zügige Abschiebung. Junge Leute aber jahrelang in einem unsicheren Schwebezustand zu halten ist das mit Abstand Dümmste, was man tun kann. Für das eine (zum Beispiel einem klaren Ja zum Spurwechsel) fehlt der politische Mut, für das andere die rechtlichen Bedingungen auf nationaler wie internationaler Ebene.

Ohne auch nur einen Hauch von der individuellen Schuld dieser Schwerverbrecher nehmen zu wollen: Eine Mitverantwortung hat die in Bezug auf diese Gruppe Migranten unschlüssige Migrationspolitik auch. Deshalb gleich von Staatsversagen zu sprechen ist typisch deutsche Untergangsromantik. In vielen anderen Fällen klappt es gut mit der Integration, und die Fallzahlen von Kriminalität sind zwar in sensiblen Bereichen angestiegen, aber nicht weit jenseits dessen, was auch nach anderen Migrationswellen zu beobachten war. Anarchie sieht anders aus, wirklich.

Aber damit sind wir bei der Frage, was genau seit Chemnitz anders ist als zuvor. Neu ist die Reaktion der Bevölkerung. Zum ersten Mal konnte eine offenkundig rechte Kundgebung praktisch unangefochten die Straße für sich behaupten. Das hat es so noch nicht gegeben. Rechte Kundgebungen, die waren normalerweise doppelt eingehegt durch massive Polizeipräsenz und starke Gegenproteste. Und die beteiligten Orte haben sie unwillig ertragen und waren froh, wenn die Kameradschaften wieder abgereist waren.

Und das war in Chemnitz anders. Der Gegenprotest war in Rolle von einem kleinen Haufen militanter Spinner, die Polizeipräsenz war so schwach, dass rechtsextreme Straftaten aus der Kundgebung wie das tragen von Vermummung oder verbotener Symbole, das Brüllen volksverhetzender Parolen und das zeigen des Hitlergrußes nur noch dokumentiert, aber nicht mehr unmittelbar geahndet werden konnten. Die polizeilichen Möglichkeiten bei grenzwertigen Kundgebungen, durch strenge Durchsetzung der Gesetze zu signalisieren: ihr seid toleriert, aber nicht wirklich willkommen – das unterblieb.

Und das wirft die Frage auf: War das vielleicht auch gar nicht so? Waren die Rechten etwa willkommen in Chemnitz? Sieht man in weiten Kreisen der Polizei und der Behörden genauso wie auch in der Wohnbevölkerung in den Rechten einen legitimen Protest gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, sieht man in den Kameradschaften Unterstützer gegen die Gewaltkriminalität von Migranten? Und ist man deshalb bereit, ihnen auch die eine oder andere Entgleisung durchgehen zu lassen, weil: in der Sache haben sie ja recht?

Die Frage, ob es Hetzjagden gegeben habe, und ob die Videos von den Jagdszenen authentisch sind und diesen Vorwurf rechtfertigen – das alles sind Diskussionfelder, die vor allem eines zeigen: Verunsicherung. Diese offen rechtsradikal skandierende Menschenmenge, die über Stunden die Lage in der Stadt unter Kontrolle hatte, weil weder Antifa, noch Polizei, noch Bevölkerung willens oder in der Lage waren, sie aufzuhalten: das hat es so noch nicht gegeben.

Man war – das muss man wohl einräumen – letztlich von der Disziplin der Demonstranten und dem „Wohlwollen“ der Versammlungsleiter abhängig, dass es eben nicht zu umfangreichen Pogromen kam, sondern nur zu Rangeleien am Rande und wahrscheinlich gemeinschaftlich begangener Straftaten kleinerer Gruppen. Wenn danach der Ministerpräsident vor die Presse tritt, und erklärt: Es sei doch alles gut gegangen – dann stimmt das immerhin so halb. Aber es lag nicht an ihm.

Darin liegt die Zäsur von Chemnitz: Der Kontrollverlust, den man bei G-20 Protesten und der Flüchtlingswelle fürchtete: er war das erste Mal spürbar gegenüber einer rechtsextremen Menschenmenge. Man musste Kompromisse eingehen, nicht weil man es für richtig hielt, sondern weil man nicht anders konnte. Und aus dieser Erfahrung kommt die Sorge: wird sich das wiederholen?

Und wird die Menge dann auch diszipliniert sein und Anführer haben, die sie zurück ins Glied rufen, wenn sie gerade am Rande ein dunkelhäutiges Gesicht erkennen? Oder an einem Dönerladen vorbeimarschieren? Denn es wird wieder passieren. Bislang hatte man Angst, was passiert, wenn ein großer Terroranschlag verübt wird. Nun muss man mit Kundgebungen rechnen, wann immer eine Schlägerei am Rande einer Kirmes übel ausgeht. Und das kann man gar nicht verhindern.

Der Staat muss jetzt Stärke zeigen: Polizeipräsenz in den Innenstädten und an Brennpunkten. Verfahren entwickeln, die kriminelle und ausreisepflichtige Ausländer schnell abschiebt oder nötigenfalls auch vorübergehend inhaftiert, wenn von ihnen eine Gefahr ausgeht. Umgekehrt aber auch Stärke zeigt zur Integration, großzügig echte und nachhaltige Bleibeperspektiven gewährt, Familiennachzug ermöglicht, und Menschen nicht jahrelang im Ungewissen parkt.

Und zuletzt: Er muss auch nach rechts als wehrhafte Demokratie auftreten, die Straftaten aus Demonstrationen heraus unterbindet und nicht nur dokumentiert.

Heidelbaer

3 Antworten zu „Chemnitz war eine Zäsur”.

  1. LIeber Philip,

    danke für deine „Botschaften“ (oft ja keine „frohen“). Ich bin auch ganz beeindruckt von dem was gerade im Osten passiert. Oft ja wohl in Sachsen…, aber nicht nur. Und was tun, und wie reagieren?

    Da sind deine Überlegungen sehr gute Anregungen.

    bis bald mal, Martin (aus Jöllenbeck)

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  2. So sehr ich der Grundrichtung dieses Artikels zustimmen kann, vor allem was die lang- oder mittelfristigen Perspektiven für Geflüchtete angeht, ist mir doch an mehreren Stellen unbehaglich zu Mute geworden:

    1) Handelt es sich bei den vermutlichen Tätern im Chemnitz (und auch Köthen) um genau das: Verdächtige. Übrigens auch in beiden Fällen nicht des Mordes Verdächtige. Mir scheint es sich, wenn von „Gewalt und Mord“, die in die Innenstädte getragen werden, die Rede ist, schon um eine – vielleicht unterbewusste? – Wiederholung gängiger Klischees zu handeln. Deutsche Innenstädte sind im Großen und Ganzen sichere Orte geblieben. Erst recht kann nicht von davon gesprochen werden, Geflüchtete oder Migranten würden das Land mit Morden überziehen.

    2) „Aber damit sind wir bei der Frage, was genau seit Chemnitz anders ist als zuvor. Neu ist die Reaktion der Bevölkerung. Zum ersten Mal konnte eine offenkundig rechte Kundgebung praktisch unangefochten die Straße für sich behaupten. Das hat es so noch nicht gegeben. “

    Diese Behauptung ist falsch. Sie ignoriert – womöglich unabsichtlich – die Realität in Ostdeutschland. Hier gab und gibt es an vielen Orten rechtsextreme Demos gegen die die örtliche Bevölkerung nichts unternimmt. Der neuen Strategie der Naziszene, nicht mehr auf feste Termine mit Großaufmärschen (13. Februar in Dresden, Heß-Geburtstage) zu setzen, sondern schnell und mobil jeweils dort zu mobilisieren, wo etwas vorgefallen ist, kann die Antifa im Osten nur bedingt etwas entgegensetz: Sie kommt schlicht nicht mehr hinterher.

    Vom Appeasment der Sächsischen Polizei (und der dortigen Bundespolizeikontigente), die nach seriösen Angaben von rechtsradikalen unterwandert ist, an dieser Stelle zu schweigen, gilt doch von allen Polizeibehörden im Osten (und manchenorts auch im Westen), dass Vergehen wie Hitlergrüße oder das Tragen verfassungsfeindlicher Symbole fast nie (!) dazu führen, dass Veranstaltungen abgebrochen werden (obwohl das immer gegen die Veranstaltungsauflagen verstößt, und linke Demos wegen kleinerer Vergehen selbstverständlich aufgelöst werden) oder auch nur die unmittelbar Tatverdächtigen „herausgezogen“ werden. Dahinter steckt im besten Falle eine Deeskalationsstrategie der Polizei und im schlechtesten Falle eine Mischung aus Angst und Zustimmung gegenüber den Nazis, unter der der Rechtsstaat wirklich leidet. Worin da „nach Chemnitz“ eine Neuerung bestehen sollte, erschließt sich mir überhaupt nicht.

    Was eine solche „Dokumentation“ zur anschließenden Strafverfolgung bringt, sieht man in Dresden ja sehr gut, wo auch schon mal Verfahren wegen „mangelnden öffentlichen Interesses“ eingestellt werden.

    3) „Und wird die Menge dann auch diszipliniert sein und Anführer haben, die sie zurück ins Glied rufen,“

    Das hier traditierte Bild vom diszipliniert demonstrierenden Neonazi, gerade im Vergleich zum Anarcho-Autonomen, ist eine Propagandalüge der NPD, die sich erstaunlich lange hält. Am Rande von und im Anschluss an Nazi-Demos kommt es permanent und in erschreckender Höhe zu Gewalttaten, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen. Selbst die Regionalzeitungen im Osten – sonst mit der Berichterstattung über Rechtsextreme scheints gänzlich überfordert – sind voll von entsprechenden Meldungen.

    Es gibt keine Zäsur von Chemnitz. Das ist rechtsextremer Alltag in Sachsen, in Ostdeutschland, in diesem Land. Im Osten nichts Neues. Die einzigen die hier „aufwachen“, sind Salonnazis und „besorgte Bürger“, die meinen sich jedes Anstandes entledigen zu können, weil die Mehrheitsgesellschaft sich nicht um Stande sieht, weiter gründlich zwischen Rechtsextremen und Demokraten zu unterscheiden. In den Grauzonen ist dann gut raunen. Aber auch das sehen wir inzwischen ja seit Jahren und ist durch Chemnitz nicht anders geworden. Da waren keine Intellektuellen auf der Straße.

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  3. „Das Messer in die Journalistenfresse“… gesungen beim Konzert der sog. Anständigen, die später versucht haben die Gedenkstätte für den Ermordeten zu zerstören

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