Rache und Vergeltung im Nahostkonflikt

Dieser Blogpost dient nur einer kurzen Klarstellung. Denn schon früher ist oft von Israels „Vergeltung“ die Rede, wenn Ziele im Gazastreifen angegriffen werden, weil von dort Raketen auf Israels Süden gefeuert wurden. Diese Berichterstattung hat sich nach dem 7. Oktober 2023 erheblich verstärkt, die Operationen der Luftwaffe aber auch der Bodentruppen werden als „Vergeltungsaktion“ bezeichnet.

Foto von Cole Keister auf Unsplash

Das ist so gesehen sachlich nicht falsch, aber dennoch problematisch. Einerseits verschleiert diese Bezeichnung den grundsätzlich defensiven Charakter der Aktion. Ziel ist es nicht „genausoviele Palästinenser zu töten, wie Israelis gestorben sind“, also Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern zunächst wirklich nur die Ausschaltung der Bedrohung durch Raketen und Terroristen. Es ist reichlich dokumentiert, dass die zivilen Opfer in Gaza ganz wesentlich der Hamas zuzurechnen sind, die erstens die Angriffe Israels bewusst provoziert, zweitens ihre Raketen in Krankenhäusern, Kindergärten, Schulen und Jugendzentren lagert, auch abfeuert, und drittens Schutzräume nur für ihre Kämpfer, nicht aber für Zivilistinnen und Zivilisten baut.

Andererseits wird – gerade weil immer wieder auf das biblische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ eine falsche Tonlage gesetzt, nämlich als ginge es Israel um Rache (dabei hat das oben genannte Vergeltungsrecht gerade die private Rache abgeschafft und die Grundlage für bis heute wichtige Vorstellungen von gerechter Strafe und Gewaltmonopol gelegt), und als sei Israels Reaktion auf die Angriffe womöglich religiös motiviert. Das ist für mich besonders ärgerlich, wenn sogar Kollegen dann in die Mottenkiste des christlichen Antisemitismus greifen, und eine neutestamentliche Friedensethik gegen einen vermeintlich alttestamentlichen Rachegott ausspielen wollen. Das ist weder politisch noch theologisch richtig.

Denn die folienhafte Darstellung in der Theologie, als wäre das Alte Testament bzw. das Judentum rachsüchtig und unbarmherzig und Jesus und das Christentum voller Gnade und Gewaltverzicht schon lange überholt. Erstens sind Judentum und ihre Heilige Schrift voller Gnade und Erbarmen und umgekehrt haben christliche Ethiker sehr genau herausgearbeitet, dass das Christentum zwar individuellen Gewaltverzicht lehrt, aber sehr wohl Gewalt zum Schutz anderer vor Mord und Totschlag gutheißen kann.

Und schließlich verkennt diese Darstellung Israels Motiv zur Selbstverteidigung. Das ist nämlich keineswegs religiös, genauso wenig wie Israel eine Theokratie ist. Israel wurde ganz wesentlich von säkularen, ja sozialistischen Juden gegründet und aufgebaut. Religiös-fundamentalistische Jüdinnen und Juden standen und stehen dem Staat sogar bis heute häufig skeptisch gegenüber, gerade weil sie nicht wollen, dass Menschen tun, was allein Gott zu schaffen zugetraut werden soll.

Israels „Vergeltung“ ist also weder unreflektierte Rachsucht, noch religiös archaische Gewalt, sondern schlicht Ausdruck der eigenen Staatsräson. Die nämlich sagt: Es hat 2000 Jahre lang keinen Staat gegeben, der den Schutz des jüdischen Volkes zu seiner Sache gemacht hätte. Generationenlang haben Jüdinnen und Juden erlebt, dass diejenigen, die sie verfolgten, vertrieben, beraubten und ermordeten letztlich ungestraft davon kamen.

Gerade am 9. November erinnern wir uns in Deutschland daran, dass die Polizei förmlich angewiesen wurde, den Pogromen der sogenannten „Reichskristallnacht“ nicht im Wege zu stehen. So sehr das, was folgte, die industrielle Menschenvernichtung in Auschwitz, einmalig war – die Pogrome stehen in einer lange Reihe von gewalttätigen Ausschreitungen in der Geschichte davor und auch danach.

Israel als Staat gründet ganz fundamental auf dem „Nie wieder!“ – nämlich dass Juden nie wieder rechtlose Opfer brutaler Gewalt werden sollen. Insofern darf Israel keine Massaker und Pogrome auf eigenem Boden tolerieren oder ignorieren, auch nicht wenn alle Welt sich eine Deeskalation wünscht. Und natürlich macht sich Israel dadurch ein Stück berechenbar, Hamas nutzt das skrupellos aus, Israel durch ihre Aktionen in Zugzwang zu bringen.

Ist deshalb Frieden unmöglich? Nein, natürlich ist nach der Militäraktion, wenn soweit es irgend geht Gerechtigkeit wiederhergestellt ist, vielleicht ein Momentum gekommen, neue Wege des Miteinanders oder Nebeneinanders zu finden. Es werden wieder alle Optionen auf dem Tisch liegen, zur Frage, welcher Weg eigentlich gescheitert ist, dazu habe ich ja schon geschrieben.

Bis dahin werde ich mich zumindest mit Ratschlägen zurückhalten, die von Israel mehr oder weniger verlangen, die eigene Staatsräson aufzugeben, und uns Nichtjuden zuliebe wieder das Bild der jüdischen Schafe abzugeben, die man straflos abschlachten kann, weil es ja Gewalt bedeutet, wenn sie sich wehren.

Heidelbaer

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