Anmerkungen zur Abtreibungsdiskussion

Anlass für diesen Artikel ist die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin. Dazu ist politisch einiges zu sagen, aber hier nur so viel: Kernfrage scheint mir zu sein, ob hier die Koalitionsdisziplin höher zu bewerten ist oder die Gewissensfreiheit. Muss man Leute wählen, deren Meinungen man nicht teilt, weil sie eben der Koalitionspartner ausgesucht hat, oder muss man nicht, weil man deren Haltung mit seinen tiefsten religiösen oder ethischen Überzeugungen nicht vereinbaren kann.

Beides sind wichtige Grundpfeiler der Demokratie. Unsere parlamentarische Demokratie funktioniert nicht mehr, wenn man unfähig wird, Kompromisse einzugehen. Dazu gibt es Parteien, dazu gibt es Fraktionen, dazu gibt es die Notwendigkeit Koalitionen zu bilden. dazu gibt es die Vorschrift, Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts müssen mit 2/3-Mehrheit gewählt werden. Das ist nichts anderes als der Appell: „Einigt euch!“

Diese Zweidrittelmehrheit schützt aber auch die Gewissensfreiheit der Abgeordneten. Man kann keine Kandidatin oder keinen Kandidaten durchsetzen, der oder die für eine starke Minderheit absolut unwählbar ist. Und natürlich ist dabei auch an religiöse Minderheiten gedacht worden, zu denen wir Christen mittlerweile zählen dürften. Hier setzte die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf an: Sie zu wählen sei für Christen absolut unmöglich, weil sie Abtreibungen befürworte, sogar bis kurz vor der Geburt.

Das stellte sich als Falschinformation heraus. Wenn zum Beispiel Brosius-Gersdorf verneint, dass werdendes Leben im Mutterleib schon vollumfänglich unter dem Schutz von Artikel 1, also Träger von Menschenwürde ist, dann kann das Menschen, denen der Schutz von werdendem Leben wichtig ist, schon sehr in Empörung versetzen. Sie sagt im zweiten Satz aber, dass es beim Schwangerschaftskonflikt um Artikel 2 geht: Den Schutz von Leben und Gesundheit. Und das ist weder besonders umstritten, noch dezidiert un-christlich.

Denn Würde ist nicht verhandelbar, aber bei Leben und Gesundheit müssen Abwägungen getroffen werden, das sehen auch Abtreibungsgegner ganz überwiegend so, dass das werdende Leben nicht „automatisch“ mehr wert ist als das Leben der Mutter, aber auch außerhalb des Schwangerschaftskonflikts wird bei Leben und Gesundheit ja abgewogen, bei Organspenden oder Notwehrsituationen. Also keine schlimme Gewissensnot, Abwägungsfrage im Meinungsspektrum.

Wer den zweiten Satz unterschlägt, und dann per Facebook-Logik behauptet: Wer nicht weiß, was Menschenwürde ist, darf auf keinen Fall Richterin am Bundesverfassungsgericht werden, agiert bewusst mit Halbwahrheiten und nutzt den Dunning-Krueger Effekt aus, dass sich Millionen User jetzt für verfassungsrechtlich kompetenter halten, als eine Professorin für dieses Sachgebiet.

Dabei ist z. B. die Bibel da längst nicht so eindeutig, wie christliche Vertreter eines Abtreibungsverbotes es gerne hätten. Im Alten Testament, in den Gesetzen über Tod und Leben (2. Mose 21,12-21), da ist eindeutig zu erkennen, dass bei Verlust von werdendem Leben „nur“ eine Geldstrafe fällig wird, während der Tod von bereits geborenen Menschen mit dem Tod bestraft wird.

Dagegen kann ins Feld geführt werden, dass in Psalm 139 der Beter singt, er sei schon im Mutterleibe von Gott gekannt worden. Das ist eine starke Glaubensaussage, aber ethisch nur teilweise verwertbar, weil es der Lobpreis eines Lebenden ist, der Gottes Nähe über die Spanne seines Lebens hinaus, also vor der Geburt und nach dem Tod besingt. Das lehrt Respekt für werdendes Leben genauso wie für Verstorbene, aber die Gleichung, dass werdendes Leben und geborenes Leben für die Bibel eins seien, geht nicht auf.

Dagegen gibt es Beispiele in der Bibel, da verfluchen und beklagen Menschen wie Hiob den Tag ihrer Geburt, auch Jesus sagt von Judas, es wäre besser für ihn gewesen, er wäre nie geboren worden, was wieder ein Beleg dafür ist, dass das Leben im biblischen Sinne wirklich mit der Geburt beginnt.

Zu dem biblischen Befund kommt aber auch noch eine emotionale Komponente, die schon vor-biblisch ist. Schwangere genießen einen besonderen Schutz, das ist bei Menschen und anderen Säugetieren gleich. Das werdende Leben ist verletzlich, es zu schützen ist ein geradezu instinktives Bedürfnis. Wer Menschen begleitet hat, die „Sternenkinder“ zur Welt gebraucht haben, weiß, wie groß die Trauer sein kann, wenn aus werdendem Leben am Ende kein Leben wird.

Von daher sträubt sich einem alles dagegen, werdendes Leben nur als eine Geschwulst, eine Raumforderung im Körper der Mutter zu bewerten. Für dessen Schutz könnte auch noch mehr getan werden, warum Alkoholausschank an Kinder unter Strafe steht und an Schwangere nicht, kann man sich ja auch mal fragen.

Für Christen ist der Schutz der sonst recht- und wehrlosen eine besondere Aufgabe, die explizit Witwen, Waisen aber auch Fremdlinge und Asylsuchende betrifft. Und man insofern auch werdendes Leben da einbeziehen kann, dass man nicht leichtfertig damit umgeht.

Das ist auch ein notwendiges Korrektiv, weil – wie bei der Sterbehilfe ja auch – der Begriff „Freiwilligkeit“ nur in der Theorie wirklich funktioniert. Tatsächlich sind Sterbenskranke und ungewollt Schwangere einer Menge Einflüsse und Faktoren ausgesetzt, die ihre „Willensentscheidung“ massiv beeinflussen.

Das können Beziehungsfragen sein, dass werdende Väter oder Großeltern das Kind ablehnen, das können aber auch soziale Fragen sein, dass Frauen damit rechnen müssen, von Staat und Gesellschaft mit Versorgung und Erziehung des Kindes alleingelassen zu werden – und stattdessen nur mit Forderungen, Erwartungen und Vorwürfen konfrontiert zu werden.

Bei der „Sterbehilfe“ müssen wir uns ja auch fragen, ob der Wunsch zu sterben nicht oft daher kommt, dass wir darin versagen, eine menschenwürdige Palliativversorgung aufzubauen, und überforderte Angehörige mehr oder minder bewusst den Sterbenden signalisieren: wir können nicht mehr, es wäre besser du stürbest so bald wie möglich.

Da sind wir Christen mit unserer Parteilichkeit für das Leben gefragt. Da dürfen wir einem allzu „einfachen“ Lösungsansatz im Weg stehen, der das Problem von Leben, das nicht so recht in unsere Leistungsgesellschaft passt, einfach zu beseitigen, wegzumachen – aber auch abzuschieben und abzuweisen. Und ja, da dürfen wir auch mal stur und unbequem sein.

Aber aus dieser Parteilichkeit sind immer noch verschiedene Meinungen und Haltungen möglich. Ob das Strafrecht immer das geeignete Mittel zum „Lebensschutz“, auch von werdendem Leben ist, kann auch unter Christen diskutiert werden. Gerade, weil auch ungewollt Schwangere sehr schutzbedürftige Menschen sind, denen man lieber helfen sollte, als sie mit (Staats-)Gewalt zu bedrohen.

Von daher würde ich zu der Haltung kommen: Weil Frauke Brosius-Gersdorf nicht die Schutzwürdigkeit vom werdendem Leben grundsätzlich in Frage stellt, sondern nur in der Frage vom richtigen Maß und Mittel eine anderen Meinung hat als ich, sehe ich hier keinen Gewissensnotstand für die Abgeordneten, sondern eine Meinungsfrage, bei der sie „guten Gewissens“ den Koalitionsfrieden wahren können, auch wenn sie dezidiert anderer Meinung sind.

Heidelbaer

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