Die Attentate von Paris haben uns alle erschüttert. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass zunächst relativ reflexhaft reagiert wird. Statt des überall geforderten Zusammenstehens über alles politischen Lager hinweg prallen die Positionen eher noch unversöhnlicher aufeinander. Weil jeder von so einer „jetzt erst Recht“ oder „gerade jetzt“ Stimmung erfüllt ist.
Gerade jetzt müsse man Flüchtlinge begrenzen, eine „Kehrtwende“ einleiten und die Willkommenskultur beenden, die Grenzen dichtmachen usw. – oder umgekehrt: Jetzt erst recht müsse man die Flüchtlinge aufnehmen, die Ansätze zu Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass bekämpfen. Beide Seiten wollen unsere Kultur, unser christliches Abendland retten. Das wird wohl noch interessant werden – und man kann (was diese Diskussion angeht!) beinahe von Glück sagen, dass das Verbrechen nicht bei uns im Land stattfand, dann fielen die Wortmeldungen womöglich noch viel schriller aus.
Zumindest bei zwei Streitfragen, will Philippika versuchen zu vermitteln, eine gewisse Klarheit herzustellen, und als drittes eine eigene Position formulieren.
Die offenen Grenzen lassen Terroristen ins Land – tun sie nicht – tun sie doch!
Diese Diskussion gab es schon vorher. Sie wird immer noch leidenschaftlich geführt. Es wurden Experten befragt, die widerlegen sollten, was jeder sich mit dem gesunden Menschenverstand denken konnte. Dass dieser Strom von Flüchtenden eine ideale Tarnung für islamistische Gotteskrieger sein muss, die versuchen, nach Europa einzusickern.
Dadurch, dass bei einem Täter der Anschläge ein syrischer Pass gefunden wurde, scheint es entschieden: Doch. Es kommen auch Terroristen über die Balkanroute. Zwar wurde der Pass als Fälschung bezeichnet, aber nach neuesten Erkenntnissen stimmen die Fingerabdrücke des Täters mit einem auf der Insel Leros registrierten Flüchtling überein.
Damit kann diese Frage eigentliche abgehakt werden – und die Alpträume der Verantwortlichen für unsere innere Sicherheit sind Wirklichkeit geworden. Verborgen in der anonymen Masse des Flüchtlingsstromes bewegen sich offenbar auch Terroristen des IS unerkannt durch halb Europa und können dann in den Herzen unserer Hauptstädte blutige Anschläge verüben.
Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn der weit größere Teil der Attentäter waren eben gerade keine Flüchtlinge, und der als Flüchtling eingereiste Syrer war gerade nicht der erfolgreichste Täter dieser Bande. Es ist nicht einmal sicher, ob er mehr hinbekommen hat, als gerade mal sich selbst umzubringen. Er starb vor den Toren des Stade de France, seine Mission innerhalb der Fußball-Arena ein Blutbad anzurichten war gescheitert, als er seinen Sprengstoffgürtel zündete.
Viele andere (zum jetzigen Zeitpunkt sind noch nicht alle Leichen identifiziert und auch noch nicht mit letzter Sicherheit klar, dass alle Täter tot sind) waren schon lange in Frankreich, hatten sogar einen französischen Pass. Andere hielten sich in Belgien auf. Man kann mit Fug und Recht bezweifeln, dass der eine syrische Flüchtlingsterrorist, nun die „conditio sine qua non“ war, dass also ohne hin die Operation gar nicht hätte stattfinden können.
Mit anderen Worten: Selbst die Methode „Grenzen dicht“ hätte dieses Attentat, nach all dem was wir jetzt wissen, nicht verhindern können. Und auch die Forderung, wenigstens jeden Flüchtling zu erfassen und zu registrieren greift hier zu kurz, denn der Mann war erfasst und registriert. Der Triumph derjenigen, die jetzt laut „Siehste!“ rufen ist also von kurzer Dauer, und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz Vorratsdatenspeicherung und anderen Methoden, die Gruppe sich unbemerkt formieren, organisieren, bewaffnen und zuschlagen konnte. In Belgien und in Frankreich. Auch die Behauptung der Franzosen, die Tat sei sicher in Syrien geplant worden, scheint mir verfrüht und allzu sehr geeignet, mit militärischem Akionismus von sicherheitspolitischem Versagens im Innern erst einmal abzulenken.
Die Flüchtlinge fliehen vor dem IS. Tun sie nicht. Tun sie doch.
Diese Behauptung wird gebetsmühlenartig wiederholt, sogar von politisch verantwortlichen wie Heiko Maas, dem Justizminister der Bundesrepublik: Es wäre absurd, die Flüchtlinge abzuweisen, weil sie doch gerade vor dem Terror des IS fliehen, der uns auch bedroht. Diese Behauptung ist schön und menschlich, aber empirisch nicht zu halten. Alle Befragungen der Flüchtlinge ergeben eindeutig, dass der mit äußerster Brutalität geführte Krieg des Diktators Assad die ganz überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus dem Land getrieben hat.
Und im Grunde braucht man keine Statistiken und Umfragen, um das zu wissen: In dem von Assad kontrollierten Teil von Syrien ist es nämlich vergleichsweise ruhig, es findet so etwas wie ein normales geregeltes Leben statt. Das liegt schon allein daran, dass es dort eine Regierung gibt, und kein verworrenes Knäuel aus Clans und Warlords zerstrittener Rebellenfraktionen. Und an einer ganz anderen schlichten Tatsache: Assad ist der einzige Bürgerkriegsteilnehmer, der über eine Luftwaffe verfügt, die durch die russische Intervention erheblich an Schlagkraft gewonnen hat.
Nur Assad kann also den Krieg weit in das Hinterland der Gegner hineintragen, so dass nicht nur Frontstädte betroffen sind, sondern praktisch jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung im Rebellengebiet von seinen vernichtenden Fassbomben oder russischen Schrappnell- oder Phosphorbomben heimgesucht werden kann. Das treibt Menschen in die Flucht.
Der Vollständigkeit halbe müssen die Luftschläge von den USA und ihren Verbündeten gegen IS genant werden, aber diese sind erstens sehr viel gezielter, zweitens im Ausmaß begrenzter und drittens stärker in Frontnähe angesiedelt. Und tatsächlich kommt auch hinzu. Der IS herrscht im syrischen Hinterland, fern der Küste, an der Grenze zum Irak. Die Fluchtwege aus diesem Territorium hinaus, dort wo also Luftangriffe der Verbündeten und ein Schreckensregime der Islamisten durchaus etliche Fluchtgründe liefern, sind begrenzt, sind gefährlich und steinig. Insofern kein Wunder dass die meisten Flüchtenden aus Rebellengebiet kommen, und die fliehen nun mal vor Assad.
Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit: Denn genau die Tatsache, dass das syrische Hinterland von IS beherrscht wird, nimmt den Flüchtlingen aus dem Rebellengebiet eine wichtige Option innerstaatlichen Asyls. Sie können sich nicht dorthin zurückziehen, wo ihnen als Abtrünnigen der Kopf abgeschnitten wird. So werden sie förmlich auf das Meer getrieben, und in dieser indirekten Form ist der IS sehr wohl eine Fluchtursache auch für jene, die in erster Linie vor Assad fliehen.
Und außerdem ist der IS neben der russischen und iranischen Intervention die Hauptursache dafür, dass die Assad-Armee nicht schon längst zusammengebrochen ist. Hätte der IS nicht im Rücken der Freien Syrischen Armee eine zweite Front eröffnet, wäre der Frontverlauf heute auch an der anderen Seite ein anderer, und viele Menschen in Syrien sicherer.
Flüchtlinge und Terror haben etwas miteinander zu tun, nein haben sie nicht, haben sie doch!
Die Wirklichkeit ist also wieder einmal komplizierter als die Parolen von links oder von rechts. Natürlich haben Flüchtlinge und Terror etwas miteinander zu tun, aber weder ist die Flüchtlingskatastrophe nun die Hauptursache für Terrorgefahr in Europa, noch kann einfach behauptet werden, alle Flüchtlinge flöhen vor dem IS.
Und trotzdem müssen beide Zusammenhänge fest in den Blick genommen werden. Einerseits muss mit der Terrorgefahr gerechnet werden, und es müssen auch im Blick auf die Flüchtlinge Maßnahmen getroffen werden, die sicherheitspolitisch notwendig sind. Das heißt, dass man von der Erstregistrierung in Griechenland an, bessere Kontrollen hat, die Wege und Ziele der Flüchtenden erfassen. Sie dann auch für eine kurze Übergangszeit zu internieren kann sinnvoll sein, bevor man sie dann in den europäischen Ländern und innerhalb dieser Länder wieder vernünftig verteilt.
Ziel ist dabei also nicht die schnellstmögliche Abschiebung, sondern die effektive Integration in die Gemeinschaft, die Vermeidung von Ghettos und jenen von der Gesellschaft, dem Fortschritt, der Freiheit abgehängten Banlieues, die ebenso eine Terrorbrutstätte zu sein scheinen wie der syrische Bürgerkrieg. Diese Maßnahmen sind nicht schön, und es müssten erst dafür Kapazitäten geschaffen werden, die auch heutigen Standards menschengerechter Unterbringung und Versorgung gerecht werden. Aber diese Maßnahmen wirken auch auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung, und das ist heute eben auch wichtig. Und sie sind für Flüchtende zumutbar, solange sie menschengerecht und zeitlich begrenzt sind.
Als zweites muss man bei aller martialischen Rhetorik und den militärischen Optionen sagen: Auch den Stalinismus haben wir nicht militärisch besiegt, sondern durch die Attraktivität unserer offenen und freien Gesellschaften und unseren wirtschaftlichen Erfolg. Die Abstimmung mit den Füßen brachte ihn endgültig zum Einsturz. Wir beobachten heute auch eine Abstimmung mit den Füßen: Die Menschen in der arabischen Welt wollen weder islamo-faschistische Blutgier noch despotischen Hass auf die eigene Bevölkerung. Sie wollen Freiheit, Demokratie und Würde.
Ich bin tatsächlich fest davon überzeugt, dass es weiter Deutschlands entscheidender Beitrag sein kann, durch gelebte Willkommenskultur die Kraft und Wirklichkeit unserer Werte erfolgreicher in den Nahen Osten zu vermitteln als durch Bomben und Zäune es je möglich wäre. Werte vermittelt man nicht durch ein arabisches Grundgesetz, dass Flüchtende in die Hand gedrückt bekommen (eine nette Geste ist es trotzdem). Werte vermittelt man dadurch, dass man sie lebt (das können Sie in jedem Erziehungsratgeber nachlesen, und oh Wunder: bei Erwachsenen funktioniert es genauso).
Der IS hat tatsächlich ein größeres Problem als die amerikanischen Bomben: Ihm bricht seine Unterstützung in der Heimat weg. Menschen wollen sein Regime nicht mehr, sie hassen die Gängelung, sie spüren den wirtschaftlichen Misserfolg. Die Flucht der Abertausenden entziehen ihm Menschen, entziehen ihm Legitimität. Es werden noch harte Jahre kommen, aber der Zusammenbruch ist absehbar. Und viele Syrer werden dann zurückkehren, um ihr Land wiederaufzubauen. Wenn sie dann hier gesehen und erlebt haben, dass es anders geht als mit Hass und Gewalt, dann ist das der kostbarste Beitrag, den Deutschland leisten kann.
Heidelbaer
Danke für deinen weisen Text.
LikeLike