Welche Reform braucht der Islam?
Mit diesem Beitrag bringe ich meine Islam/Reformation-Trilogie zum Abschluss. Der erste Teil provozierte mit der Frage, ob nicht der Salafismus selbst die von vielen westlichen Beobachtern geforderte „Reformation“ des Islam sei – und zeigte fünf überraschende Parallelen zwischen Luthertum und Salafismus auf.
Der zweite Beitrag versuchte theologisch zu klären, warum Reformation – wie sie in der Christenheit stattfand – für den Islam gar nicht der Weg aus der Krise sein kann. Dabei wurden (wieder einmal) fünf entscheidende Unterschiede zwischen Christentum und Islam markiert, die deshalb bei Anwendung desselben Verfahrens (Reformation) ganz unterschiedliche Ergebnisse zeitigen.
Nun wäre es ganz und gar islamophob, in den Chor derjenigen einzustimmen, die schon immer gesagt haben, der Islam sei im Wesen bösartig, gewalttätig und unreformierbar. Das stimmt einfach nicht. Denn dann wären alle Muslime ja (latent) gewalttätig, und die Geschichte des Islam eine Blutspur ohne absehbares Ende.
Beides ist (obwohl es Bemühungen gibt, es genau so aussehen zu lassen) nicht an der Wirklichkeit festzumachen, wenn in Betracht zieht, dass Mensch als solches latent gewaltbereit ist, und die Menschheitsgeschichte ein ziemlich blutige ist. Dazu braucht es keinen Islam, wirklich nicht.
Gleichermaßen ist richtig, dass der Islam derzeit aber in einer tiefen Krise steckt, es stimmt, dass es keinen islamischen Staat, keinen Staat im muslimischen Raum gibt, der es in Fragen von Menschenrechten mit westlichen Staaten (gleich welcher religiöser Prägung) aufnehmen kann.
Vor allem fehlt aber der muslimischen Mehrheit eine Vision, wie „ihr“ Islam, aussehen könnte. Was sie den so koranfesten Salafisten mit ihrer zwingend erscheinenden Mörderlogik entgegen setzen könnten. Wenn „Reformation“ der falsche Weg ist, und auch das Argument „unreformierbar“ nicht sticht, bleibt die Frage: Welche Reform braucht der Islam?
- Euro-Islam. Dieses Schlagwort, schon vor Jahrzehnten von Bassam Tibi in die Runde geworfen, steht für die kühne These, dass die Zukunft des Islam nicht in den autoritären Gesellschaften der Orients, sondern in der liberalen, akademischen Welt des Westens, genauer Europas erfunden werden muss. Hier, und nur hier könne sich ein Islam entwickeln, der westliche Werte wie Freiheit, Individualität, Humanismus und Gleichberechtigung in sich aufnimmt und so zukunftsfähig für die gesamte islamische Welt wird.
So sehr seine Thesen gerade nach den Attentaten des 11. Septembers viel diskutiert wurden, konnte er sich gerade bei den muslimischen Glaubensgemeinschaften kaum durchsetzen. Als Politikwissenschaftler fehle ihm die theologische Bildung, sein Islamverständnis sei zu oberflächlich, was ihm vorschwebe sei eine Verchristlichung des Islams, die diesem nicht gerecht werde.
Gleichwohl leben viele Muslime so eine Art säkularen Euro-Islam, der sich auf ein paar Glaubensinhalte und Traditionen stützt, aber ansonsten westliche Paradigmen teilt, wie die Trennung von Religion und Politik, die prinzipielle Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und die Toleranz zu anderen Religionen. - Doch so pragmatisch und praktikabel dieser Euro-Islam auch ist: Er erscheint nicht nur Muslimen theologisch zu schwach begründet. Bassam Tibi ist nicht der Gelehrte, der Theologe, den der Islam braucht, um sich selbst seinen Gläubigen wieder neu zu erklären.
Doch wenn es im Islam keinen „Luther“ braucht, wen denn dann? Mein Vorschlag wäre eine Art Friedrich Schleiermacher. Erstens war der nicht gottlos, sondern fromm (nannte sich einen Herrnhuter höherer Ordnung) und gleichzeitig gilt er als Vater der liberalen Theologie.
Sein Kernsatz in seiner Schrift „Über die Religion“ lautet: Religion besteht nicht in Metaphysik und Moral, sondern in Anschauen und Gefühl.
Wenn man die theologische Krise des Islams auf einen Punkt bringen könnte, würde ich es heute tatsächlich auf eine gefährliche, ja toxische Überdosierung von Metaphysik und Moral diagnostizieren. Der Salafismus besteht praktisch nur aus Metaphysik und Moral. Er erklärt uns das Verhältnis von Gott und der Welt in five easy lessons, und den Rest des Lebens beansprucht er dann uns befehlen zu können, was wir zu tun und zu lassen haben. Metaphysik und Moral.
Stattdessen: Anschauen und Gefühl. Es ist das, was vielen Muslimen an ihrer Religion kostbar ist, was ihnen Heimat in ihrem Glauben gibt, obwohl er dieser Tage so schrecklich verzerrt in der Öffentlichkeit dargestellt wird, nicht (nur) von den westlichen Medien, sondern gerade auch von seinen selbsternannten Vorkämpfern.Wie könnte eine Umsetzung von Metaphysik und Moral aussehen? - Im Blick auf den Koran: Zurück zur „Heiligkeit“ der Schrift. Statt gegen Beleidigung des Propheten sollten die Muslime gegen die Verwurstung ihres Korans durch die Salafisten und Islamisten protestieren. Massenhaft. Dem Koran seine Heiligkeit zurückgeben, heißt: ihn den Fingern der Fledderer entreißen. Man kann den Koran nicht in Millionenauflage unter des Volk werfen, und dann tödlich beleidigt sein, wenn irgendwer ihn als Stütze unter einen wackelnden Tisch, oder als Papierspender auf sein Klo legt.
Der Koran darf nicht übersetzt werden, und er gehört in die Moschee und in die Hände derer, die ihn auch wertschätzen und angemessen behandeln können. Der Koran gehört gelesen, rezitiert, gesungen und gezeichnet. Er gehört nicht „verstanden“. Ich fühle mich hier an einen Satz von Hermann Timm in seinem Buch „Das ästhetische Jahrzehnt“ erinnert: Das Verstehen ist in Imperialismus-Verdacht geraten.
Nie leuchtete mir dieser Satz so klar ein, wie im Blick auf den Koran. Er will Heilige Schrift sein, und aus ein paar Surenfetzen heraus nun genau wissen und sagen können zu wollen, was Allah höchstselbst nun von dir und mir will, ist eine Bemächtigung von etwas, das mir gar nicht zu meiner Verfügung steht.
Eine ästhetische Hermeneutik, also ein Zugang zum Koran, der ihm seine Heiligkeit und Fremdheit lässt, die ihn weder historisch-kritisch in seine textlichen Bestandteile zerlegt, noch in quasi-evangelikalem Fundamentalismus aus seinen Worten Wörter macht, mit denen man Menschen versklavt, vertreibt und tötet – das scheint mir alles andere als unislamisch zu sein. - Im Blick auf den Propheten: Wenn wir ernst nehmen, dass Muhammad gar nicht lesen konnte, dann muss er auch einen ästhetischen Zugang zum Wort Gottes gehabt haben. Und also sollte auch seine Person, sein Wirken mehr als Gesamtkunstwerk, denn als moralisches Vorbild für einzelne Taten und Verrichtungen aufgefasst werden. Wenn Muhammad nicht fremd bleiben darf, entrückt und entzogen, wenn ihm der Schleier vom Gesicht gerissen wird – dann ist er bereits eine Karikatur, bevor ein Westergaard oder wer sonst immer zur Feder gegriffen hat.
Es ist nicht unislamisch, Muhammad als das Siegel der Propheten zuzugestehen, anders zu sein als wir. Gerade wenn jede einzelne seiner Worte und Taten als im perfekten Einklang mit Gott und seinem Willen gelehrt wird, ist es unmöglich nur einzelne dieser Taten und Entscheidungen nachzumachen, zu imitieren und dadurch zu persiflieren.
Kein selbsternannter Kalif kann deshalb einen islamischen Staat ausrufen, keiner kann sich auf diese Weise an Muhammads Stelle setzen, niemand, der sterblich ist, darf sich mit ihm gleich setzen. Konsequent zuende gedacht werden damit Argumente: Muhammad hat aber doch auch Feinde geköpft, Hände abgehackt und Minderjährige geehelicht absolut bedeutungslos.
Habe du erste Iman wie Muhammad, darin eifere ihm nach. Suche Gottesnähe in Anschauen und Gefühl, statt in pseudoreligiösen Perversionen von Sex und Gewalt. - Im Blick auf Gott. Allahu Akhbar! Gott ist größer. Nichts ist dem Islam wichtiger zu betonen als das Größer-Sein Gottes. Gerade damit wird aber doch seine Unverfügbarkeit ausgesagt. Es sollte verboten sein, politische Parteien, Programme und Gruppierungen „islamisch“ zu nennen, weil Gott größer ist, als unsere Ideen von gerechter Macht- und Ressourcenverteilung. Und nein, auch wenn man sie aus dem Koran und den Hadithen zusammen copy-pasted: Gott ist größer als dieses menschliche Patchwork. Gottes Größe ernst zu nehmen könnte helfen als Menschen bescheidener zu werden. Eben nicht leichtfertig Leben zu nehmen. Nicht schnell zu urteilen. Nicht gedankenlos den Takfir aussprechen.
Gottes Größe kann gerade dadurch ein Türöffner für den Humanismus werden. Wer Gott Gott sein lässt, kann den Menschen Mensch sein lassen.
Heidelbaer