Die demokratische Mitte bröckelt nicht mehr, sie befindet sich förmlich in einer Erosion. Wenn Joachim Gauck sagt, die Mitte sei stark, dann scheint das wie ein Pfeifen im Walde. Denn die Wirklichkeit sieht anders aus, und zwar nicht nur in Deutschland, nicht nur in der sogenannten westlichen Welt, sondern praktisch global.
Tatsächlich sind wir in Deutschland noch in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Die Ablehnung freiheitlich-demokratischer Ideale, die Skepsis gegenüber Europa und den USA, der Wunsch nach einer starken Nation unter einem starken Führer: sie kommt bei uns vielleicht auf 25-30%.
Dabei gehe ich nicht von den fragwürdigen Zahlen der Mitte-Studie aus, die durch missverständliche und suggestive Fragen falsche Ergebnisse produziert. Alarmierend hohe Zahlen lassen sich eben besser verkaufen. Aber wenn die Wahrheit an den Wahlurnen zutage tritt, erreichen die systemkritischen Parteien LINKE und AfD zusammen etwa dieses Ergebnis.
Wobei sich bei DIE LINKE einiges bewegt, und die russlandtreue, euroskeptische Fraktion unter Druck gerät. Antiliberalismus und Antiamerikanismus sind dort aber weiterhin hoffähig. Insofern gibt es Schnittmengen mit der AfD, so sehr das immer bestritten wird, und Griechenland zeigt, dass rechts-links Koalitionen auf diesen Gemeinsamkeiten aufgebaut werden können.
Womit wir im Ausland wären. Es steht auf Spitz und Knopf. In Österreich wurde ein Sieg des Rechtspopulisten Hofer nur mithilfe der Briefwahlstimmen verhindert. Die allerdings vielfach zu früh geöffnet wurden, und damit das Wahlergebnis wieder auf der Kippe steht. Auf der Kippe steht auch das Referendum in Großbritannien zum Verbleib in der EU. Und auch in der Präsidentschaftswahl in den USA wird ein Kopf-an-Kopf Rennen erwartet.
Wenn man dann noch hinzuzieht, dass populistische Parteien und demokratisch legitimierte Autokraten in Polen, Ungarn, Russland und der Türkei das Ruder übernommen haben, ja dass selbst in Indien mit Modi ein Vertreter eine nationalen nach unseren Maßstäben rechtspopulistischen Partei regiert – dann stellen wir fest: die 50% Hürde wackelt nicht, sie ist schon vielfach gefallen. Und sie wird es wieder tun.
Es wäre deshalb an der Zeit, nicht immer nur national zu Fragen, warum die Briten keine EU, die Österreicher keine GroKo und die Ungarn keine Ein- und Durchwanderer wollen. Was die Türken an Erdogan und die Russen an Putin so klasse finden. Und wie in aller Welt eine der ältesten und erfolgreichsten Demokratien der Welt plötzlich auf die Idee kommt, jemanden wie Donald Trump als aussichstreichen Kandidaten in eine Präsidentenwahl starten zu lassen.
Die Rückbesinnung auf nationalkonservative Werte, auf Stärke bis zum Machotum und militärischem Interventionismus (Krim, Kurdenkrieg), die Feindbildprojektion wahlweise auf den Islam, das Weltjudentum oder wen-auch-immer, die Ablehnung demokratischer Spielregeln, die Vereinfachung komplexer Probleme und die Nähe zu Verschwörungstheorien – all das zeugt von einer globalen Orientierungslosigkeit und Sinnkrise, die ihresgleichen sucht.
Wir Deutschen sehen schon Parallelen zu den 30er Jahren, und ganz verkehrt liegen wir damit wohl nicht. Denn noch existiert die EU noch, die als gemeinsamer Feind die nationalen Kräfte in Europa eint. Aber was, wenn sie an den polnischen, ungarischen, britischen und französischen Nationalismen zerbricht? An deutschen Alleingängen und griechischen Pleiten? Wohin dann mit dem ganzen Hass?
Es gilt doch zu befürchten, dass sich die aufgestauten Aggressionen dann wieder gegeneinander richten, gegen Deutschland, die Briten, die Franzosen, die Osteuropäer, den Balkan. Noch bejubeln Farrage, Le Pen, Hofer, Petry und Orban einmütig das Europa der Vaterländer, in dem es sich friedlicher miteinander auszuhalten wäre, als in dem Zwangskorsett der EU.
Aber alle diese Rechtspopulisten haben ihre Leichen im Keller, weil sie Missstände allzu leicht auf Brüssel projizieren, ungedeckte Schecks ausstellen, unhaltbare Versprechungen machen. Sie alle können (wie auch Putin, Erdogan und andere) praktisch nicht ohne Feindbild existieren. Sollte eins zerbrechen, werden sie ein neues suchen, das ist absolut sicher. Und dann gnade uns Gott, wenn sie über Atomraketen gebieten.
Deshalb ist es jetzt an der Zeit, wieder um demokratische Werte zu kämpfen, auf die Sinnkrise eine bessere Antwort zu geben, als die eines halbwegs gesicherten Lebensunterhalts. Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit – all dies kann Demokratie besser als die Autokraten. Und darum gilt es zu kämpfen.
Ein Gedanke zu “Auf Spitz und Knopf”