#TeamVolkskirche

Der Titel ist schon ein Widerspruch in sich: Hashtag-Team-Irgendwas, das suggeriert, man wolle etwas ganz Freshes, Hippes, Begeisterungsfähiges zum Trenden bringen. Das ist in Verbindung mit dem Wort Volkskirche geradezu lächerlich, vielleicht sogar rührend. So als würden sich Leute im Rundfunkrat, lauter mittelalte Herren mit eigenwilligem Klamottengeschmack einigen, wir machen jetzt auch mal was für die jüngere Generation und starten #TeamGEZ in den Sozialen Netzwerken. Wir ahnen, dass es ein Rohrkrepierer wird. Oder in einem Shitstorm aus Spott und Häme versinkt.

Nur die Volkskirche ist ähnlich unpopulär wie die „Zwangsabgabe“ für den „Staatsfunk“. Nun hat gerade ein sehr kluger Mensch ein sehr kluges Plädoyer für öffentlich-rechtliche Medien und von der Allgemeinheit zu tragende Kosten dafür gehalten. Weil die Privatisierung von Information und Meinungsbildung aufgrund unserer psychischen und neurophysiologischen Verfasstheit untragbare Risiken bedeutet. Ein langer Artikel, und er hat mich überzeugt. Gilt das auch für die Privatisierung der Religion? Ich meine Ja. Und deshalb bin ich #TeamVolkskirche.

Volkskirche ist in der Krise. Es mag sie eigentlich keiner mehr. Angegriffen wird sie von außen wie von innen, und man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Von außen zum Beispiel durch „Liberale Humanisten“. Leute wie Ali Utlu twittern es jeden Tag zu ihren 20.000 Followern: Weg mit den Privilegien, Privatisiert die Religion, schafft die Volkskirche ab. Sie fußen damit auf allgemeiner Religionskritik und konkretem Misstrauen, dass spätestens seit den Anschlägen vom 11. September wieder da ist: Dass Religion als solches gefährlich ist.

Da ist ja auch etwas Wahres dran: Viele Kriege und Konflikte sind religiöser Natur, selbst wenn es eigentlich immer auch politische oder ökonomische Aspekte gibt: Den Menschen macht es besonderes Vergnügen zu töten, wenn sie es im Namen Gottes tun dürfen, heißt es in dem sehenswerten Film „Von Menschen und Göttern„. Der Verweis darauf, dass die größten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts im Namen von dezidiert „wissenschaftlich“ formulierten Ideologien begangen wurden hilft da wenig, und kommt als Whataboutism rüber.

Und gegen John Lennon kommt man damit sowieso nicht an. Wir wissen es einfach: Religion kann aus dem Ruder laufen, kann zu fanatisierten und zum abscheulichsten Mord bereiten Massen führen. Verblendete, jeder vernünftigen Argumentation entzogene Eiferer, die bereit sind für eine Fabel, einen Messias, einen unsichtbaren Gott über Leichen zu gehen. (Wer den Artikel oben gelesen und die Geschichte gelernt hat weiß allerdings: Das geht auch ohne. Ändert aber nichts.)

Aber ad contra: Vielleicht ist gerade das das entscheidende Argument für Volkskirche. Dass sie eine Art Containement für das Religiöse bietet. In ihrer pomadigen Behördenstruktur, in ihrer flächendeckenden Mittelmäßigkeit, in ihrer verkopften Ausbildung, in ihrer durch und durch lauwarmen Kompromissbereitschaft stellt sie einen unschätzbaren Puffer gegen Fanatismus und Gewalt dar. Im Gegenteil sorgt sie sich um sachlichen Pragmatismus und bleibt dennoch Heimat religiösen Denkens, Fühlens und Handelns für Millionen von Menschen. Das ist stark. Und, Überraschung: Religion kann auch zu Gutem motivieren. Aber dazu später.

Nur einen setze ich noch drauf: Volkskirche schützt nicht nur vor Fanatismus, vor der totalen Religion, sondern auch vor dem totalen Staat. Ich betrachte es als anti-liberalen Sündenfall, dass Kubicki mit seiner Stimme eine Demutsformel in der Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung verhindert hat. Denn bei Überwachung, Bundestrojaner und NetzDG ahnen wir doch alle: auch der Staat kann zur Gefahr werden (und geschichtskundige wissen es). Dass der Staat sich nicht als letzte Instanz, nicht als Maß aller Dinge versteht, sondern weiß, dass Menschenwürde nicht von ihm abhängt – das ist im Kern liberal und weder konservativ noch sozialistisch.

Die andere Infragestellung von außen: Genau jene Radikalen. Die Volkskirche macht es den bibeltreuen Christen schwer. Mit den Entscheidungen Geschiedene wiederzuverheiraten, Frauen zu ordinieren, homosexuelle Paare zu segnen und zuletzt womöglich auch noch auf die Mission von Muslimen zu verzichten: Immer wieder stellt sich die (evangelische) Landeskirche gegen den Wortlaut der Heiligen Schrift.  Wird nach aller Bibelkritik das Wort Gottes überhaupt noch als solches anerkannt und lauter gepredigt, wie es die Reformatoren forderten?

Freikirchen sind kompromissloser, glaubensernster, moralischer, bibelfester als die Volkskirche. Hier wird noch etwas geglaubt, hier gibt es noch klare und verbindliche Maßstäbe für das Leben, hier gibt es noch inbrünstiges Gebet statt blutleerer Formeln, hier gibt es noch verbindliche Gemeinschaft statt einer Kartei mit Millionen Namen von Menschen, die man noch nie in der Kirche gesehen hat. Es sieht oft so fad und öde aus in der Volkskirche, dass Menschen ernsthaft zum Islam konvertieren, weil ihnen dort das alles geboten wird, was sie schmerzlich in ihrer Kirche vermissen.

Aber ad contra: Was Volkskirche kann, ist eine gewissen Grundevangelisation der Bevölkerung erreichen. So sehr die Freikirchen über Kirchenchristen, Namenschristen, Kulturchristen und dergleichen lästern: Eine religiöse Grundsozialisation ist besser als gar keine. Das sieht man auch im Ost-West-Vergleich in Deutschland. Gerade die Erkenntnis, dass der Staat zwar Werte schützen, aber eigentlich nicht selber setzen kann, zeigt wie wichtig die Arbeit der Kirchen ist. Und zwar nicht nur für ein paar hochmotivierte religionsaffine Menschen, sondern für alle.

Und tatsächlich bauen auch die Freikirchen ganz massiv auf die religiöse Grundsozialisation durch die Volkskirchen auf. Es ist ihre Lebenslüge, dass volkskirchiche Religiosität das Gleiche wie Unglaube wäre, dass die Kirchen mit ihrem verwässerten Evangelium der Evangelisation mehr schadeten als nützten. Im Gegenteil: Wer schon mal von Gott gehört hat, ist viel leichter ansprechbar, als Menschen, denen schon der Begriff fremd ist, und wo man bei Adam und Eva anfangen muss. Auch das merkt man im entkirchlichten Osten: Die Freikirchen sind dort längst nicht so stark wie im Westen. Ihr Wachstum ist oft parasitär von der schwächelnden Volkskirche, aber ist dieser Wirt erst tot, wird es für Freikirchen auch schwerer.

Dennoch: gegen die Volkskirche spricht die Abstimmung mit den Füßen. Besser als jede Umfrage, jedes Meinungsbild sind die harten Fakten, wenn es um die persönliche Entscheidung geht. Und die ist eindeutig. Jedes Jahr treten Hunderte, Tausende aus der Kirche aus. Kirche gerät also auch in ehemaligen Hochburgen zunehmend in die Minderheit. In einer säkularisierten Welt wird Kirche als unnötig empfunden, als irrelevant für das eigene Leben. Weder der Glaube, noch die Institution ist den Menschen die ca. 9 Prozent der Einkommenssteuer wert, die als Kirchensteuer fällig werden.

Dazu kommt der demographische Faktor: treue Mitglieder sind fast nur noch in der älteren Generation zu finden, und die sterben aus oder gehen in Rente und fallen als Kirchensteuerzahler aus. In der jüngeren Generation werden längst nicht mehr alle Kinder getauft, längst nicht mehr alle getauften konfirmiert und von den Konfirmierten treten viele aus, sobald sie Geld verdienen und Kirchensteuer zahlen müssen.

Allerdings ist davon noch wenig spürbar. Durch den Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre merkt man das auf der Einnahmenseite noch nicht, im Gegenteil, jedes Jahr gibt es neue Rekorde, weil die Steuermehreinnahmen die Mitgliedererosion überkompensieren. Man könnte von einem Tex-Avery-Syndrom sprechen: Wie die Comicfiguren des Slapstick-Zeichners geht die Volkskirche fröhlich geradeaus weiter, obwohl sie den Rand der Klippe längst hinter sich gelassen hat und keinen Boden unter den Füßen mehr hat.

Wenn es dicke kommt, dann fällt ein wirtschaftlicher Abschwung mit der Pensionierungswelle der Babyboomer zusammen, und es gibt Kalkulationen, dass die Kirche dann in recht kurzer Zeit auf 30% ihrer Einnahmen verzichten müsste. Bei einer Organisation dieser Größe mit öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen und Pensionsverpflichtungen ist das der Ruin.

Aber ad contra: Am Beispiel des Erzbistums Hamburg zeigt sich allerdings, dass Menschen auch ohne Kirchenzugehörigkeit Institutionen der Volkskirche wertschätzen, ja auch bereit sind, sich dafür zu engagieren. Auch wenn ihnen die Religion und ihre Institution nichts bedeutet, merken sie, dass beides doch etwas ist, was ihrer Stadt, was der Gesellschaft fehlen wird, wenn es einfach verschwindet.

Neben der „Grundevangelisation“ bietet Volkskirche noch eine Stufe niedriger auch eine Grundwertevermittlung, die unserer Gesellschaft gut tut. Dies gerade auch für die von allen so verachteten bildungsfernen Schichten auf dem Lande. Also die, die in vielen westlichen Staaten in Scharen zu den rechten Rattenfängern überlaufen. In Deutschland bleiben die Ergebnisse der AfD übersichtlich, im platten Schleswig Holstein unterdurchschnittlich. Im entkirchlichten Osten überdurchschnittlich.

Wertevermittlung, in Zeiten wo Familien das aus vielen Gründen nicht mehr in der Form leisten können wie noch vor Zeiten, wird oft von Kirche geleistet. Weil sie das nicht abstrakt philosophisch, sondern konkret und narrativ tut. In dem sie in Kindergarten und Schule die alten Geschichten erzählt. In denen Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Wert der Person unabhängig von Ansehen oder Stärke oder Rang betont werden. Das prägt.

Deutschland gehört zu dem spendenfreudigsten Land, und das trotz hoher Steuern und Abgaben. Mitgefühl, Hilfe für Menschen in Not, das ist hier stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern der Welt. Die „Willkommenskultur“ so wenig sie als ein politisches Konzept taugt, ist definitiv ein Zeichen der Stärke unserer Gesellschaft, wenn abgerissene, frierende und durstige Menschen auf unseren Bahnhöfen ankommen, bringen wir Kleidung, Decken und Wasser. Das ist stark.

Wird uns das ohne Volkskirche erhalten bleiben? Oder wird diese Stärke aus der Mitte der Gesellschaft zunehmend verschwinden und zu einem Nischenphänomen werden, von selbst- oder fremderklärten „Gutmenschen“, Berufsfreiwilligen, besonders frommen, linken oder humanistischen Personen? Während der Normalbürger zu einer Haltung: Was geht mich das Leid der anderen an zurückfindet? Ich würde das bedauern.

Ich bestreite nicht, dass Menschen auch ohne Volkskirche zu moralischen Heldentaten in der Lage sind, ganz im Gegenteil: Es gibt dafür Dutzende, Hunderte Beispiele, und es gibt auch schreckliches Versagen gerade müder, umständlicher und bürokratischer Strukturen gerade in unserer Volkskirche, wenn es um spontane und wirksame Hilfe für Menschen in Not geht. Worum es mir geht, ist die Prägekraft in der Fläche, die Fähigkeit etwas in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Das ist schwierig für Einzelne, schwierig vom Rand aus.

Und zuletzt noch Kultur. Ja genau jene abendländische Kultur. Wer pflegt sie denn noch, so direkt vor Ort, gerade in der Fläche? Wo findet noch musikalische Arbeit statt mit Kindern, mit Flöten, mit Chören? Wo wird noch regelmäßig gemeinsam gesungen? Wo werden noch Oratorien aufgeführt, wer veranstaltet Konzerte in Dörfern und kleineren Städten?

Wo gibt es noch Vorträge und Veranstaltungen für die ältere Generation? Wo gibt es Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche? Man mag die Altenkreise mit ihren dickwandigen Kaffeetassen und Lichtbildervorträgen belächeln. Man darf fragen, welcher Bildungsauftrag von Konfirmandenunterricht heute noch eingelöst wird. Man kann über Blockflöten lästern. Aber ist uns klar, was fehlt, wenn das alles ersatzlos wegfällt?

Ist uns klar, dass nach Zentralisierungen bei Schulen, bei Betrieben, Kommunen, Dienstleistern, Handwerkern, Händlern oft die Kirchen die einzigen sind, die im ländlichen Raum noch vor Ort präsent sind? Alle reden vom Gefühl des Abgehängtseins gerade in ländlichen Räumen. Was passiert, wenn die Kirche als letzter dort das Licht ausmacht? Ich mag es mir nicht ausmalen, denn es steht niemand bereit, die Lücke zu füllen.

Aber wenn Volkskirche einerseits doch erhaltenswert scheint, andererseits zum Untergang verdammt ist, wenn nicht entschieden gegengesteuert wird, was ist dann zu tun? Zunächst sollte in dieser Situation alles gedacht und versucht werden dürfen, wofür es Menschen gibt, die es mit Liebe zu ihrer Kirche tun. Keine Bewegung innerhalb der Kirche sollte von vorneherein verurteilt oder verdächtigt werden. Die wichtigste Erneuerung der Kirche kann nur durch Gottes Geist passieren, und der weht bekanntlich wo er will.

Nur eine inspirierte und deshalb inspirierende Kirche kann Menschen begeistern, und nur wo Menschen gerne Christen sind in ihrer Kirche, wächst auch eine Liebe zu dieser Institution, steigt die Bereitschaft für diese Kirche zu arbeiten, und für diejenigen die dort arbeiten auch zu bezahlen. Alles andere steht im Verdacht, an den Symptomen herumzudoktern.

Deshalb ist es zunächst gut, dass die Generation Y mit Kirche² fresh expressions für ihre Kirche und ihren Glauben sucht. Es ist gut, dass es Bewegungen für Gemeindeerneuerung gibt, von evangelikalen oder charismatischen Kreisen, wer noch nie auf einem Kongress der Willow Creek Bewegung war, sollte das vielleicht mal nachholen, bevor er sicher ist, dass das Christentum in Deutschland bald Vergangenheit ist. Es ist noch sehr lebendig.

Nur die volkskirchlichen Strukturen sind vor dem Kollaps. Alle Erneuerungsbewegungen werden den großen, globalen Trend nicht umkehren, sie werden hier und dort positive Kirchenerfahrungen ermöglichen, wo vorher nur Langeweile war, aber da wird es sich um Inseln und Leuchttürme handeln, nicht um eine Gezeitenwende in der Fläche.

Nicht wenige fordern deshalb ein beherztes Ja zu neuer Freikirchlichkeit. Und all das loswerden: den ganzen Behördenapparat, den gewaltigen Gebäudebestand, das ungeliebte Kirchensteuersystem, das Beamtenrecht, die verkopfte universitäre Ausbildung, die überdimensionierten Dienste und Werke von Diakonie, Schulwesen, Kindergärten und Spartenprogrammen für Frauen, Männer, Urlauber, Arbeiter, Seeleute, Kinder, Jugendliche, Senioren, Behinderte, Auslandsdeutsche usw.

Zurück zu kleinen, lebendigen Gemeinden, die ihre Arbeit selber finanzieren aus Menschen, denen das etwas wert ist, wo wieder etwas da ist, was wir verlernt haben: Liebe zur Kirche. Beziehung. Wertschätzung. Und daraus folgend dann Engagement und finanzielle Teilhabe. Crowdfunding statt Steuer. Das klingt cool und zeitgemäß.

Selbst Pastoren und Funktionäre der Volkskirche stimmen mit ein in dieses Vision: Sie sind ihrerseits genervt von der volkskirchlichen Gemeinde. Zuständig zu sein für Menschen, die sie nicht kennen. Menschen beerdigen müssen, die man nie gesehen hat. Bei Trauungen zum Dienstleister für das gewisse Etwas an Romantik gebucht zu werden, ohne dass Glaubensfragen eine Rolle spielen. Heiligabend überrannt zu werden, und am Sonntag drauf wieder fast allein in der Kirche zu sein.

Aber auch hier fragt sich: Dürfen wir das wollen? Dürfen wir uns in eine komfortable Nische zurückziehen, und dürfen wir die vielen Menschen, denen wir am Ende ihres Lebens ein paar gute Worte, zur Trauung einen Moment der Nachdenklichkeit, zu Weihnachten die beste Botschaft der Welt sagen können – dürfen wir die im Stich lassen?

Deshalb müssen wir doch über Strukturen reden und nicht nur über Inhalte. Über Modelle kirchlicher Präsenz vor Ort, bei weniger Geld und weniger Personal. Über Dinge, die wirklich wichtig sind, und Dinge, die man auch anders organisieren kann. Dazu am Ende dieses langen Beitrags nur skizzenhaft Ideen.

  1. Bei aller nötigen Selbstkritik, und bei aller düsteren Zukunft: Wir dürfen ein kleines bisschen mehr Selbstbewusstsein risikieren. Wir haben nicht nur die beste Botschaft der Welt, wir haben auch eine sehr wichtige und derzeit unersetzbare Funktion in Staat und Gesellschaft. Machen wir uns deshalb nicht selber schlecht – so vermeiden wir übrigens auch Überforderung und Burnout.
  2. Krisenmodus heißt auch: Konzentration auf das Wesentliche. So sehr ich den Wert von einer sehr breit aufgestellten Volkskirche betont habe, ist ein Schrumpfungsprozess wie man so schön sagt: alternativlos. Aber hier muss genau gesehen werden wo und wie. Einfach in Rasenmähermanier alles linear kürzen ist die phantasieloseste und wohl auch dümmste Variante. Man muss wissen, wovon Kirche letztlich lebt. Worin sie lebt. Wofür sie lebt. Das bedeutet differenziertes Vorgehen.
  3. Auf dem platten Land: Die Flamme brennen lassen: Die dezentrale Präsenz nicht aufgeben, sondern so gut es geht vor Ort bleiben. Deshalb sollten wir Wege finden, wie wir kleine Andachten organisieren, die regelmäßig ein Licht in diesen Räumen anzündet. Auch ohne Pastor, auch ohne Liturgie. Vielleicht eine Art Hauskreis, in Decken gewickelt, aber am Ort, wo Glaube eine Geschichte hat. Und ab und zu kommt einer zu Besuch von der Kirche.
  4. In der Stadt: Mehr Profilierung riskieren. Im städtischen Kontext macht es keinen Sinn, wenn in gefühlter Nachbarschaft an drei Orten Dienst nach Vorschrift angeboten wird. Stadtgemeinden sollen und müssen sich fragen: Was ist unser Beitrag den wir für unsere Stadt leisten? Warum sollen Leute ausgerechnet zu uns kommen?
  5. Den Staat, die Kommunen einbinden: Der Staat muss seinerseits wissen, wie viel Volkskirche ihm bedeutet. Er muss dabei auf seine Neutralität achten. Wenn er zum Beispiel Gemeindehäuser erhält, weil Kirche das nicht mehr kann, muss er vielleicht auch Eigentümer werden. Oder darf er vorschreiben, dass sich dort auch nichtkirchliche oder sogar muslimische Gruppen treffen. Das ist eben Volkskirche, wir sind kein exklusiver Club, sondern haben einen Auftrag für die Gesellschaft.
  6. Dienste und Werke ausgliedern, wo es irgend möglich ist. Große Dienste und Werke haben längst eine Größe und ein Volumen, das sie besser alleine dastehen würden als einer Landeskirche, einem Kirchenkreis oder gar einer Gemeinde zugeordnet. Sie in eigene Körperschaften zu überführen (z.B. als gGmbH). Eine Kita oder eine Sozialstation machen heute ein x-faches an Umsatz im Vergleich zu einer Ortsgemeinde. Diakonische Werke können eine ganze Landeskirche ruinieren, wenn etwas schiefläuft. Wie kirchliches Profil auch ohne unmittelbare Trägerschaft funktioniert muss im Einzelnen geregelt werden.
  7. Entbürokratisierung. An viel zu vielen Stellen funktioniert Kirche immer noch wie eine Behörde, und zwar eine sehr rückständige Behörde. Es geht so vieles smarter, menschlicher, papierloser, wenn man Kirche von morgen denkt. Die Behördenstruktur ist ein preußisches Elend, dass Mitglieder und Mitarbeiter zu Untertanen degradiert, es ist so viel systemisches Misstrauen darin, dass es wirklich geeignet ist, Kirchliche Kernkompetenzen wie Liebe, Solidarität, Spontaneität und Spiritualität zu verdunkeln und zu ersticken. Und dabei mehr Kosten verursacht als spart.

Heidelbaer

5 Antworten zu „#TeamVolkskirche”.

  1. Strukturen sind für die Kirche wichtig, wenn sie der Verbreitung und Pflege des Glaubens dienlich sind. Es werden aber oft weltliche Aktivitäten in kirchlichen Gebäuden abgehalten. Kirche betätigt sich zusätzlich z. B. als Träger von Schulen, Altenheimen und Krankenhäusern. Das hat vielfach geschichtliche Gründe, Stichworte sind hier Caritas oder Säkularisation. Jedoch muss man sich darüber bewusst werden, was die Menschen umtreibt. Leute besuchen eine Kirche oder eine kirchliche Einrichtung aus den unterschiedlichsten Motiven heraus. Sie tun dies aber immer seltener aus Gründen des Glaubens.

    Die Kirchen haben die Erosion des Glaubens zwar nicht befördert. Sie sind ihr aber auch nicht effektiv begegnet. Großveranstaltungen haben und hatten stets einen größeren Stellenwert als z. B. Bibelkreise. Das fatale ist, dass man die Erosion nicht sieht. Die wenigsten verstehen, dass eine volle Kirche wenig über den Glauben der Menschen aussagt. Es ist anzunehmen, dass der Glaube schon zu Zeiten der Volkskirche schwächer war als man das heute annimmt. Wenn sich dann die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, tritt der rapide Exodus in Erscheinung…

    Lange Rede kurzer Sinn: Erhaltenswert ist eine lebendige Frömmigkeit und alles was sie stützt. Nicht erhaltenswert ist „Vereinsarbeit“. Sie führt heute niemanden mehr zum Glauben, aber die Kirche in den Ruin.

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  2. Avatar von Martin Halemeyer
    Martin Halemeyer

    Lieber Philip,

    ich auf dem Sofa, Frauke bis eben noch bei der Probe… – und jetzt haben wir deinen Text zu #TeamVolkskirche gelesen, und auch das zur Demokratie von dem Herrn Seibt.

    Kluge Gedanken…!!!

    Viele Grüße, vom Jöllenbecker Martin

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  3. vielen Dank für die differenzierte Ausführung. Von der Argumentation könnten sich auch unsere Öffentlichkeitsarbeit-Profis etwas abgucken.

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  4. Hat dies auf Glauben * Leben * Schreiben rebloggt und kommentierte:
    Lang, aber absolut lesenswert. Gedanken meines Nachbarn und Amtsbruders Philipp Kurowski zu Gegenwart und Zukunft der Volkskirche.

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  5. Zu Idee Nummer drei erlaube ich mir auf eine Initiative des Sprengels Hildesheim-Göttingen hinzuweisen: einfach.Gottesdienst.feiern. Die Webpräsenzen scheinen zwar nicht gepflegt, reichen jedoch für einen Eindruck. Vielleicht kann jemand Gewinn daraus ziehen.

    https://sprengelhildesheimgoettingen.wordpress.com/einfach-gottesdienst-feiern/

    https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/wir-ueber-uns/sprengel-kirchenkreise/sprengel-hildesheim-goettingen/projekte-subhome/einfach-gottesdienst-feiern

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