Fluchtursache Merkel?

Bald jährt sich der 4. September 2015, der Tag, an dem Deutschland die Kontrolle verlor. So titelt die Zeit, so liest und hört man es sinngemäß auch anderswo. Korrekterweise muss gesagt werden: Die Kontrolle wurde aufgegeben, aus der Hand gegeben – und einen Schuldigen dafür hat man schnell gefunden: Angela Merkel.

In der Tat macht sie sich mit dieser politischen Entscheidung angreifbar, und wie jede politische Entscheidung ist es in einer Demokratie absolut notwendig, sie zu prüfen und zu kritisieren. Es ist eigentlich mein Hauptärgernis mit unserer derzeitigen Kanzlerin, dass sie mit dem Begriff „alternativlos“ in Verbindung steht.

Das darf es in einer Demokratie nicht geben denn wesentlich dafür sind Wahlen, also auch: eine Wahl zu haben. Alternativlosigkeit stinkt dagegen nach Diktatur und Unfreiheit. Genau das haben die Merkelkritiker entdeckt und nicht zufällig nennen sich die rechten Herausforderer ausgerechnet: „Alternative“ für Deutschland. Und behaupten demnach: Es gibt sie doch, die Alternativen.

Was aber dann gerade nicht gesagt wird ist: was diese Alternativen konkret sind. Und dass diese Alternativen so schauerlich sind, dass kaum ein mitfühlender und klar denkender Mensch sie ernsthaft wollen kann. Sachlich mag Merkel ja recht haben mit der Behauptung, ihre Politik sei alternativlos – aber es ist ein giftiger Begriff.

Zurück zum 4. September: Es hätte Alternativen gegeben. Die Grenzen geschlossen halten und sie gegen den Flüchtlingsansturm verteidigen – notfalls mit Gewalt. Diese Alternative wurde auch von der „Alternative“ formuliert, Stichwort Schießbefehl. Dort, wo die eintreffenden Elendsgestalten als „Invasoren“ tituliert wurden, als feindliche, schmarotzende Masse gewaltbereiter Taugenichtse förmlich Bilder einer Zombie-Apokalypse gemalt wurden, da hätte man schießen dürfen, ja müssen, um diese existentielle Gefahr für unser Land abzuwehren.

Aber das Volk wollte das nicht. Wir wollten das nicht. Deutschland definierte innerhalb Europas den Begriff „Willkommenskultur“ neu, und Merkels Entscheidung war getragen von einer Welle der Hilfsbereitschaft, die aus der Mitte der Gesellschaft kam. Es war auch außenpolitisch ein Schachzug: Deutschland wollte sich nicht militärisch aktiv in den Syrienkrieg einmischen, und vor Ort das Leid zu mindern wurde zunehmen unmöglich weil Helfer Ziel von Bomben, Entführungen und Enthauptungen wurden.

Die einzige Art und Weise, dem geschundenen syrischen Volk Solidarität zu zeigen und Hilfe zu leisten war die Aufnahme von Flüchtlingen, was Deutschland schon über Kontingente über Jahre praktizierte. Möglicherweise war die Aufnahme der aus der Türkei strömenden Massen auch der Versuch, sich von Ankara nicht außenpolitisch erpressbar zu zeigen.

Erst als deutlich wurde, dass Deutschland allein da stehen würde, und mit Österreich und Schweden auch die letzten Verbündeten in der Willkommenskultur ihre Grenzen schlossen, da wurden auch hierzulande schrittweise alle Grenzen wieder geschlossen, Asylrecht verschärft, Abschiebungen beschleunigt usw.

Auch hier hätte es Alternativen gegeben, diesmal von links, aber auch die wirken nicht besonders attraktiv: Deutschland als einziges Land mit unbegrenztem Zuzug, europäische Nachbarn, die sich gegen uns abschotten, um ihre eigenen Grenzen gegen die Migrationsströme zu schützen, eine Isolation innerhalb Europas, ein wachsendes Unverständnis im Innern für einen Sonderweg, der auch innenpolitische Probleme der Integration explodieren lässt – das war dann doch ein zu hoher Preis.

So gesehen hat Merkel einen guten Job gemacht, auch wenn es im Detail zu fragen gilt, ob die Offenheit nicht etwas zu demonstrativ gezeigt wurde (Stichwort: Flüchtlings-Selfie), oder ob die Restriktionen nicht hier und da über das Ziel hinausschießen und viel Leid womöglich Unrecht verursachen (Blockade von Familiennachzug, Schnellabschiebungen, sogenannte „sichere“ Drittstaaten) oder einem Pakt mit dem Teufel gleichkommen (Flüchtlingsdeal mit Erdogan trotz Ausnahmezustand und Kurdenkrieg).

Aber es gibt eine Merkel-Kritik, die an Detailfragen gar nicht interessiert ist. In völliger Ignoranz aller komplexen Tatsachen wird die Kanzlerin als die eigentliche Fluchtursache dargestellt, ganz so, als gäbe es keinen Bürgerkrieg in Syrien, kein Elend in Afrika, keine Taliban in Afghanisten und keinen IS im Irak. Es wird behauptet, Merkel habe die Flüchtlinge förmlich eingeladen, der CICERO titelt sogar: „Merkels Marschbefehl„.

Damit bekommt das ohnehin verheerende Bild der „Invasionstruppen“ einen ganz neuen Spin: Kommandiert werden diese feindlichen Horden also von einem bösen Imperator, sorry, einer Imperatrix mit finsteren Absichten. Ohne den Geruch der Verschwörungstheorien zu fürchten, phantasieren Merkels Gegner über „Umvolkung“ und bizarre Vernichtungsphantasien als heimliche Agenda hinter dem politischen Handeln der Kanzlerin.

Das ist für mich aber das Ende des demokratischen, politischen Diskurses. Diese Dämonisierung entzieht sich rationaler Argumentation, entsprechend münden solche hyperventilierenden Vorstellungen in Merkels Exil oder gar Bürgerkrieg. Man ist geneigt, das als Geisteskrankheit abzutun – aber es betrifft doch zu viele, um die Lösung allein den Psychiatern im Lande zuzuweisen.

Und man sollte die Gefahr nicht unterschätzen, die in diesen Wahnvorstellungen liegt. In der puren Tatsache, dass es derartige Konstruktionen schon auf die Titelseiten als seriös geltender Politmagazine schaffen, zeigt deutlich: Diese Vorstellung entwickelt sich zu einem Narrativ, einem Wirklichkeitsbild, einem Deutungsmuster, dass sich parallel zu den geschichtlichen Tatsachen etabliert.

Ein solches Narrativ kann die Wahrnehmung ganzer Bevölkerungsteile und Milieus prägen, die dann in einem anderen Land leben als wir: Nicht in einer Demokratie mit freien Wahlen, sondern in einer Merkeldiktatur mit gleichgeschalteten Systemmedien und ungehindert einströmenden Invasionstruppen, die alle gemeinsam die Vernichtung Deutschlands wie wir es kennen und lieben betreiben.

Das ist der Nährboden für eine neue Terror-Ideologie, die verwirrte Einzeltäter genauso inspirieren kann wie sie auch bewaffnete Banden motivieren kann, die Unterstützernetzwerke zusammenhält, und auch bestialischen Grausamkeiten am Ende den Anschein der Legitimität gibt.

Seit der Mordserie des NSU wissen wir, dass Rechtsterrorismus kein Phantom, sondern tödliche Realität in Deutschland ist. Zu befürchten ist, dass durch die Verbreitung dieses Narrativs in den sozialen Medien und die Schaffung verständnisvoll nickender Milieus in die etablierten und gebildeten Kreise hinein, die CICERO anspricht, ganz andere Dimensionen rechter Gewalt vor uns liegen.

Denn bis auf den Mord an Michele Kiesewetter, dessen Motive noch der Aufklärung bedürfen, gab es bislang keinen organisierten Rechtsterrorismus, der sich direkt gegen den Staat, die Medien, die Kultur oder die Kirchen gewandt hätte. Genau das ist aber mit der verschwörungstheoretischen Gemengelage dieses neuen Narrativs eine ernstzunehmende Gefahr geworden.Wer uns gegen diese Gefahr schützt, bleibt fraglich, solange sich der Verfassungsschutz im Kampf gegen rechten Terror nur als Bärendienstleister der Demokratie profiliert.

Warum machen CICERO und andere das? Ich glaube nicht, dass sie wirklich Rechtsterrorismus salonfähig machen wollen.  Wahrscheinlich wollen einfach nur ein paar alte Männer ein Momentum nutzen, die erste Frau an der Spitze unseres Staates zu demontieren. Weil sie meinen, einen Moment mitmenschlicher Schwäche auszumachen, mit dem sie die pragmatischte Kanzlerin, die Deutschland vielleicht je hatte, zur unzuverlässigen Herzdame stempeln, die ihr pastorentöchterliches Gutmenschentum über die Staatsräson stellt.

Das ist nicht nur falsch. Das ist nicht nur gefährlich. Das ist auch einfach widerlich.

Heidelbaer


2 Gedanken zu “Fluchtursache Merkel?

  1. Falls die Schriftart nur ein klein wenig größer wäre, könnte man den tollen Text besser lesen.

    z.B. so: .entry-content {font-family: „Fanwood Text“, serif; font-size: 20px;font-size:1.25rem;}

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