Die EU ist am Zug

Die Türkeikrise erreicht nun auch die Niederlande, mit voller Wucht. Natürlich kann man der Regierung Rutte vorwerfen, sie habe mit der harten Linie die sie nach den Vorfällen um abgesagte Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland eingeschlagen hat, bewusst eine Eskalation in Kauf genommen. Man wisse doch, wie dünnhäutig die türkische Regierung auf solche Maßnahmen reagiere.

Aber vielleicht war es auch genau der richtige Zeitpunkt, genau diese Situation zu nutzen, um eine Klarstellung zu erreichen. Rede- und Versammlungsfreiheit ist ein Recht der Bürger eines Staates. Es ist aber kein zwischenstaatliches Recht. Wenn Angela Merkel deutsche Touristen auf Mallorca zu Wahkampfzwecken besuchen will, braucht sie die Genehmigung der spanischen Regierung.

Sonst könnte man ja auch die Idee haben, die Bundeswehr macht mit ein paar Panzern eine Kundgebung auf den Champs Élysées. Kommt bestimmt gut an. Nein, staatliches Handeln auf dem Boden des Nachbarlandes ist grundsätzlich tabu, und Ausnahmen sind ein Vertrauensbeweis und eine Geste guten Willens.

Dieses Vertrauen wurde erschüttert. Hätte die türkische Regierung ihre Kundgebungen zu ihrem geplanten Referendum als Fest der Rede- und Versammlungsfreiheit gestaltet, in der kritische Stimmen genauso zu Wort kommen wie die Minister, die das Präsidialsystem befürworten, niemand hätte etwas gesagt.

Es ist aber so, dass es reine Propagandaversanstaltungen sind, gefeiert wird nicht Redefreiheit, sondern Nationalismus, Autokratie und Personenkult. Dass wir das in unserem Land und in Europa nicht mögen ist nicht nur ein Geschmacksurteil. Es ist eine Lehre aus der Geschichte. Unser Vertrauen, unseren guten Willen gewinnt man mit solchen Reichsparteitagsveranstaltungen jedenfalls nicht.

Dazu kommt, dass Beobachter solcher Veranstaltungen glaubwürdig berichten, dass dort nicht nur für die eigene Sache geworben, sondern auch massiv gegen Gegner des Verfassungsentwurfes polemisiert wird. Sogar von Drohungen und Einschüchterungen ist die Rede. Durch die Anwesenheit von Geheimdienstleuten und gewaltbereiter Gruppen wie den Grauen Wölfen wirken diese Drohungen real. Es ist aber die Pflicht unseres Staates, seine Bürger vor staatlicher Einschüchterung zu schützen. Auch durch andere Staaten.

Und schließlich wird gerade jetzt in der Eskalation deutlich, dass die Türkei ihre Bürger als Druckmittel einsetzt: Es wird mit Aufstand gedroht, regierungsnahe Zeitungen rechnen die Zahl türkischen Mitbürger gegen die Truppenstärke der niederländischen Armee auf. Damit steht die öffentliche Sicherheit und Ordnung auf dem Spiel, und wenn ein Staat das Recht hat, unmittelbaren Zwang anzuwenden, dann genau zur Abwehr von dieser Gefahr.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir in einer Zeit hybrider Kriegsführung leben. die Toleranz der Ukraine, russische Staatsmedien und russische Propaganda auf ihrem Boden zuzulassen hat sich furchtbar gerächt. Und eine Hetze gegen Europa, gegen die Gastländer, gegen Andersdenkende und gleichzeitig eine sichtbare Präsenz bewaffneter Sicherheitskräfte und gewaltbereiter faschistoider Gruppen wie der Grauen Wölfe – das ist alles andere als harmlos.

Natürlich muss man vielleicht nicht jede türkische Äußerung auf die Goldwaage legen, wir in Deutschland nehmen die Schlagzeilen britischer Boulevardpresse vor Länderspielen ja auch nicht bierernst. Auf der anderen Seite müssen aber Präsidenten und Regierungen einen anderen Maßstab akzeptieren. Und eine Art Deppenbonus für die „heißblütigen Orientalen“ einzurechnen, wäre purer Rassismus.

Also ist die EU am Zug. Sie kann weder Deutschland noch die Niederlande allein lassen, als seien das rein bilaterale Konflikte. Es geht um das Prinzip. Die Türkei missbraucht ihre aus gutem Willen eingeräumten Rechte und das damit verbundene Vertrauen. Sie akzeptiert nicht die Konsequenz daraus, dass ihr diese Rechte von einzelnen Mitgliedsstaaten nun nicht mehr eingeräumt werden. Sie droht offiziell mit Konsequenzen und versagt beim Schutz der diplomatischen Vertretungen.

Niemand, am wenigsten Deutschland, hat ein Interesse an ungebremster Eskalation. Aber gerade deshalb muss die Gemeinschaft konsequent handeln und die Einhaltung grundlegender Spielregeln einfordern und das Überschreiten roter Linien ahnden. Es wäre an der Zeit für ein europaweites Wahlkampfverbot türkischer Regierungsmitglieder. Es wäre Zeit, bekannte Führungsfiguren der Grauen Wölfe zu identifizieren und auszuweisen. Es ist überfällig, den Beitrittsprozess offiziell auf Eis zu legen.

Natürlich hat das Risiken. Der Flüchtlingsdeal könnte platzen. Mittlerweile hat die EU aber ihre Außengrenzen verstärkt, eine erneute Welle könnte besser kontrolliert und kanalisiert werden. Viel gefährlicher scheint es, die strategisch so wichtige Partnerschaft zu verlieren. Die Türkei womöglich in die Arme Russlands zu treiben.

Aber auch da sollte Europa selbstbewusst sein. Wie lange hat Erdogan den harten Kurs gegen Russland denn durchgehalten, als Putin als Revanche für den Abschuss eines Kampfflugzeuges Sanktionen verhängte? Wurde die Türkei da nicht auch in unsere Arme getrieben? Und? Wer redet heute noch davon? Europa hat eine weit größere Macht als die Russen – und außerdem könnten dann die USA ja mal etwas tun, um den Türken zu erklären, warum sie sich besser nicht mit Europa anlegen sollten.

Es geht nicht um Rache oder Revanche, es geht nur um eine ganz wichtige und notwendige Klarstellung. Wer welche Rechte hat, oder eben nicht hat, und dass man Rechte, die man nicht hat, sich auch nicht mit Gewalt, mit Drohung und Geschrei erzwingen darf. Und es geht auch darum, dass die EU zeigt, dass die nationale Sicherheit ihrer Mitgliedsstaaten ein Interesse der Gemeinschaft ist – und gerade damit den rechten Populisten den Wind aus den Segeln nimmt.

Was Europa jetzt braucht ist eine starke, auch eine wehrhafte EU. Russland gegenüber ist es gelungen, Haltung zu bewahren, jetzt sollte man es auch der Türkei deutlich machen. Dann können alle am Ende von diesem Konflikt profitieren – nicht zuletzt auch die Türken, in ihrer Heimat oder in den Ländern der EU.

Heidelbaer


5 Gedanken zu “Die EU ist am Zug

  1. Da ist etwas dran. Die EU kann viel mehr bewirken, als viele ihr zutrauen. Einzelne Nationalstaaten können das nicht.

    In Bezug auf Wahlkampfveranstaltungen wäre ich dafür, möglichst viel Meinungsfreiheit zuzulassen – auch wenn es eine Wahl außerhalb der EU in der Türkei betrifft.

    Wenn Grenzen gesetzt werden, müssen sie mit den demokratischen Grenzen der Meinungsfreiheit begründet werden und nicht mit offensichtlich vorgeschobenen Brandschutz-Untersuchungen (wie in NRW geschehen).

    Gefällt 1 Person

  2. Jedes andere Land achtet bei ähnlich gelagerten Sachverhalten (wie z.B. stimmberechtigte GIs in Rammstein) darauf, dass es Parteien-, nicht Regierungsvertreter sind, die den Wahlkampf machen. Und dass der Staat sich neutral hält und dafür Sorge trägt, dass beide Seiten gleiche Rechte haben. Ein Staat, der sich selbst zum Wahlkämpfer macht, Opposition mit Terrorvorwürfen kriminalisiert und inhaftiert und seine exekutive Macht also zur Einschüchterung von Wählern missbraucht, darf im Geltungsbereich des Grundgesetzes m.E. nicht agieren, auch wenn es ein anderer als der unsere ist.

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