Hat Erdogan gerade Deutschland besiegt?

Dies wird die erste Verschwörungstheorie, die Philippika je veröffentlicht hat. Und ich hoffe, sie ist falsch, wie alle anderen. Bitte widerlegt mich in Tweets, Blogposts, Facebookkommentaren. Denn wenn sie stimmt, hat Deutschland gerade eine krachende außenpolitische Niederlage eingefahren – ausgerechnet gegen Erdogan, den zuletzt schwächelnden Präsidenten der Türkei.

Innenpolitisch ist er seit der letzten Wahl deutlich angezählt. Er wollte die verfassungsändernde Mehrheit – und verfehlte selbst die absolute Mehrheit. Die prokurdische HDP errang weit über die nötigen 10% der Stimmen – seine AKP scheiterte daraufhin in den Koalitionsverhandlungen, Neuwahlen stehen an.

Auch außenpolitisch fehlte ihm das Fortune, er hatte voll und ganz auf den baldigen Sturz Assads gesetzt – doch der blieb im Amt, teils aus nackter Existenzangst der ihn tragenden Alewitischen Minderheit, teils wegen russischer und iranischer Unterstützung – und nicht zuletzt, weil die USA und EU vor einer eigenen militärischen Beteiligung zurückschreckten.

Immerhin wurde der Türkei symbolische Unterstützung gegeben, indem Patriot Abwehrsysteme an ihrer Grenze stationiert wurden. Aber das daraus wenigstens so etwas wie eine Flugverbotszone werden könnte, darauf hoffte Ankara vergebens. Und mit dem Erstarken des sogenannten Islamischen Staates und der rasanten Karriere kurdischer Gruppen zu den einzig verlässlichen Partnern des Westens lief es endgültig schief für den Autokraten am Bosperus.

Die Türkei stand wegen ihrer Nähe zu islamistischen Gruppen immer stärker in der Kritik, die Kurden konnten dagegen im Kampf um Kobane den Nimbus der Helden gewinnen, und wurden (wenn auch über die gemäßigte Fraktion im Irak) sogar mit deutschen Waffen beliefert. Als die Türkei dann doch militärisch eingriff und mehr kurdische als islamistische Ziele bombardierte, zog Deutschland sogar seine symbolische Unterstützung zurück – und beorderte die Patriots nach Hause.

Die Situation wurde brenzlig, im Innern war der Terror zurück durch islamistische und kurdische Gruppen, und außenpolitisch setzt eine regelrechte Erosion der Unterstützung im Westen ein, namentlich bei den sonst verlässlichen Freunden in Deutschland. Denn die deutsche Regierung schien in ihren Handlungen den Forderungen der empörten Öffentlichkeit nach einem härteren Kurs gegen die Türkei nachzugeben.

Zu genau diesem Zeitpunkt setzt eine völlig beispiellose Flüchtlingswelle ein. Korrespondenten berichten, dass die Türkei ihre Lager leerte. Flüchtlinge erzählen, man wolle sie in der Türkei nicht mehr haben. Schleuser machen das Geschäft ihres Lebens, und die türkischen Sicherheitskräfte kooperieren oder schauen weg. Nicht einmal, sondern in hunderttausenden von Fällen.

Das kann Zufall sein. Es kann aber auch sein, dass Erdogan eine Trumpfkarte spielt, mit der er gewinnen muss. Er weiß, was German Angst ist, er weiß welche Verzweiflung die syrischen Flüchtlinge ergriffen hat, und dass sie jeden Strohhalm Hoffnung ergreifen werden. Und er weiß, was Bilder in der westlichen Öffentlichkeit wert sind.

Es ist eine gewagte Hypothese, eine schwindelerregende Spekulation: Aber hat die Türkei absichtlich die Schleusen geöffnet, um Europa, namentlich die Bundesrepublik Deutschland unter Druck zu setzen? Hier handelte es sich erkennbar nicht um einen abgesprochenen Prozess, keine geregelte Verlegung von Flüchtlingen. Deutschland und Europa waren völlig unvorbereitet auf die Mengen an Menschen, die plötzlich in Zügen und auf Straßen, Booten und Fähren unterwegs waren.

Das gesamte Schengen/Dublin Gefüge erlebte den totalen Kollaps, und so sehr die Bevölkerung in einer beispiellosen Hilfsaktion eine Willkommenskultur zelebrierte, die niemand für möglich gehalten hätte, regierte in den Kreisen der Verantwortlichen vom Bund bis in die Kommunen die nackte Panik. Die schiere Menge an Menschen schien auch mit Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte aus Polizei und Katastrophenschutz einschließlich der tausenden Ehrenamtlichen einfach nicht bewältigbar.

Der Versuch, den Zustrom zumindest zu verlangsamen, indem man die südöstlichen Nachbarn dazu brachte, ihre Grenzen stärker zu schützen, Grenzkontrollen einführte und sogar Autobahnen sperrte und Bahnverbindungen zeitweise stilllegte – er scheiterte. Und produzierte fürchterliche Bilder, die niemand ertragen konnte und wollte. Gleichzeitig war keine innereuropäische Einigung möglich eine Verteilquote der Flüchtlinge zu vereinbaren.

In dieser Situation reist der Bundesaußenminister Steinmeier in die Türkei. Überraschend flauen die Kämpfe in den kurdischen Gebieten ab, möglicherweise will man ein Umfeld für konstruktive Verhandlungen haben. Steinmeier lobt die Türkei für ihre heldenhafte Aufnahme von Flüchtlingen, er hat Milliardenzahlungen aus der EU im Gepäck, um die Türkei darin zu unterstützen, dies zu verbessern und fortzuführen.

Sogar die wichtige Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg wird betont, und die Bereitschaft, mit Moskau über eine Lösung im Nachbarland zu verhandeln ausdrücklich begrüßt. Zur Kurdenfrage hört man wenig. Als Steinmeier abreist, startet die türkische Luftwaffe erneute Angriffe auf kurdische Stellungen. Und türkische Sicherheitskräfte hindern Flüchtlinge am Verlassen des Landes.

Es ist ein schlimmer Verdacht gegen Erdogan, so zynisch mit dem Schicksal, den Hoffnungen, ja dem Leben von Hunderttausenden an schutzsuchenden Männern, Frauen und Kindern zu pokern, um für seine eigenen militärischen Abenteuer freie Hand zu bekommen. Es wäre ein furchtbarer Verrat an den eben noch als einzig verlässlich geltenden Kurden, sie ans türkische Messer zu liefern. Nur weil man unfähig ist, die Flüchtlingskrise zu meistern.

Und es wäre eine krachende außenpolitische Niederlage. Aber das schrieb ich oben schon.

Heidelbaer


3 Gedanken zu “Hat Erdogan gerade Deutschland besiegt?

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