Jahrelang habe ich das Gleichnis vom verlorenen Schaf ausgelegt, dass es in der Gemeindearbeit nicht nur um die gehen dürfe, die da sind, sondern man auch einen Blick haben müsse für die, die nicht da sind. Die Kirchenfernen, die Distanzierten, die Ausgetretenen oder Ungetauften, die an den Hecken und Zäunen, Sie kennen das.

Schafherde in Kirgisistan, Foto von Patrick Schneider auf Unsplash

Mittlerweile alarmiert mich aber eine Entwicklung, die mir das Gleichnis in einem neuen Licht erscheinen lässt. Und das betrifft unsere sogenannten Amtshandlungen oder Kasualien. Konkret sind das Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung. Hier hat sich – speziell aus der Perspektive des Dorfpastors – in den letzten 10 (zehn!) Jahren eine kleine Zeitenwende vollzogen.

Ich wohne und „pasteurisiere“ auf dem Dorf in Angeln, einem recht traditionellen und der Kirche wohlgesonnenem Landstrich Schleswig-Holsteins). Hier war vor 10 Jahren noch Konsens, dass z. B. Ausgetretene nicht kirchlich bestattet werden. Ich kann mich noch genau daran erinnern wir wir mit dem zu uns fusionierten Kirchenkreis Flensburg darüber stritten, warum in Adelby möglich gemacht wurde, was bei uns ausgeschlossen war.

Das entsprach auch dem Kirchenrecht, man hatte theologische Gründe (Wer sich zu Lebzeiten gegen die Kirche entscheidet, den trägt man da nicht rein, wenn er sich nicht wehren kann), und natürlich auch pragmatische Motive (wieviele Menschen sind wohl nur noch Mitglied der Kirche, weil sie eine christliche Bestattung wollen?).

Gleiches galt für Hochzeiten mit nur einem oder gar keinem evangelischen Partner, bei Taufen und Konfirmationen, die ja so oder so eine Kirchenmitgliedschaft begründen, war es nur bei der Suche nach evangelischen Paten wichtig. Aber all diese Konflikte und Probleme erscheinen plötzlich förmlich luxuriös und im goldenen Licht einer heilen, aber vergangenen Welt – und sind gerade 10 Jahre her.

Denn die Problemlage heute stellt sich fundamental anders dar: Was auf den Städten schon länger der Fall ist, kommt mit Wucht bei uns auf dem Dorf an: Evangelische Eltern, beide Kirchensteuerzahler, lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. Sie melden sie nicht mehr zur Konfirmation an. Eine Berliner Kollegin hat die Einladung zum Konfirmationsunterricht bei allen evangelischen Kindern ihrer Gemeinde persönlich vorbeigebracht und hatte 0 (null) Resonanz.

Bei den Trauungen ein ähnliches Bild. Evangelische Paare heiraten nur noch standesamtlich. Manche engagieren – obwohl sie mit ihren Kirchensteuern einen Pastor / eine Pastorin bereits bezahlt hätten – für teures Geld einen Hochzeitsredner oder eine Hochzeitsrednerin. Manche sagen offen: Eine kirchliche Hochzeit sei zu aufwändig, das könne man sich einfach nicht leisten.

Und bei Beerdigungen, das, wo wir als Kirche uns heimlich immer unersetzbar fühlten nimmt die Zahl evangelischer Leichen, die ohne Pastor, ohne Vaterunser, ohne kirchlichen Segen unter die Erde kommen stetig zu – auch auf dem Land. Angehörige, mit der Vorstellung eine Trauerfeier überfordert, entscheiden sich schnell (und billig) für eine Beisetzung „in aller Stille“, ohne Pastor ohne nix.

Das heißt, meine Rolle als Pastor hat sich grundsätzlich gewandelt. Anstatt als Gralshüter unserer heiligen Kasualien diese vor inflationärem Zugriff durch kirchenfremde Leute zu schützen, die nur den romantischen Kick suchen, aber das Christentum samt Kirche ablehnen, mutiere ich nun förmlich zum Handlungreisenden, der Menschen unsere Segenshandlungen anpreist.

Es sind die unsrigen, die sich von der Herde entfernen, und die wir Hirten wieder einsammeln müssen. Das verlorene Schaf aus dem Gleichnis hat ja auch mal zur Herde gehört, ja gehört immer noch dazu, aber läuft einfach in eine andere Richtung. Wenn man dem nicht hinterhergeht, wird man es womöglich nie wieder sehen.

Denn, wenn nicht einmal mehr unsere Mitglieder unsere Amtshandlungen – wirtschaftlich gesprochen: Dienstleistungen – annehmen, für die sie bereits bezahlt haben, was läuft dann eigentlich schief? Mit welchem Grund sollen wir annehmen, dass sie nach der nächsten Steuererhöhung, Wirtschaftskrise oder dem nächsten Kirchen-Skandal noch Mitglieder bleiben?

Und ist es nicht zusätzlich verheerend, wenn wir uns klar machen, dass wenn Kirche sich aus Geld- und Personalmangel aus der Fläche zurückzieht, und von einem lokalen Vereins- und Kulturbetrieb zu einer regionalen Amtshandlungsagentur mutiert, dass wir gerade dann auch auf Mitglieder angewiesen sind, die diese Amtshandlungen wertschätzen und in Anspruch nehmen?

Wir Hirten (lat.: pastores) müssen uns also auf die Socken machen. Ein Blick nach Osten hilft, die Frage, wie man als Kirche lebensnahe Segenshandlungen anbietet, mit Partnern in Schule, Pflegeheimen oder Kindertageseinrichtungen wird dort schon an vielen Orten sehr kreativ und auch mit guter Resonanz beantwortet.

Tendenziell ist bei aller bleibenden Nachfrage nach wirklich liebevoll und individuell gestalteten Feiern (die eigentlich unsere Stärke sein sollten) ein Trend zu gemeinsamen Festen zu erkennen. Weil Familien sich oft (finanziell, zeitlich, organisatorisch) überfordert fühlen, ein Fest komplett allein auszurichten, nehmen erstaunlich viele die Einladung zu einem gemeinsamen Tauffest an.

Gleiches gilt für Traupaare. Ich habe schon mehrere Paare einfach im Gemeinde-Gottesdienst im Anschluss an die Predigt verheiratet. In Flensburg wurde das Angebot eines Drop-In-Weddings so dermaßen gut angenommen, dass die Pröpstin mit einspringen musste, um dem Andrang gerecht zu werden.

Bei Konfirmationen wird es auch wichtiger, vom Gedanken: „Du muss zwei Jahre Unterricht erleiden, um dir die Konfirmation auch zu verdienen!“ wegzukommen. In unserem Kirchenkreis haben wir gute Erfahrungen mit dem Modell des KonfiCamps gemacht, wo Jugendliche eine Woche gemeinsam in den Ferien wegfahren, und dort den Großteil ihres Unterrichts erfahren – mit starken erlebnispädagogischen Elementen und großem Spaßfaktor. In Schweden ist man schon weiter, da macht der CVJM KonfiCamps auf Mallorca.

Bei Bestattungen ist es tatsächlich noch schwieriger. Trauer, auch in ihren Phasen, zu der Abwehr und Verleugnung gehört, kann einer Kontaktaufnahme zur Kirche im Weg stehen. Allein der Gedanke an eine Trauerfeier schmerzt so sehr, dass Menschen dann von der Möglichkeit ganz darauf zu verzichten, Gebrauch machen.

In meiner Wirklichkeit ist tatsächlich hilfreich, dass meine Dorfgemeinde noch Trägerin des Friedhofs ist. (Fragen Sie bitte nicht danach, wieviel Arbeit das macht). Trauernde kommen also zu mir, weil sie trotz allem eine Grabstelle brauchen. (Bei See- und Waldbestattungen bin ich allerdings raus). Allein dieser rein geschäftliche Kontakt ermöglicht oft, ein Gespräch anzuknüpfen:

– Sie haben dem Bestattungshaus gesagt, sie wünschen eine stille Beisetzung, ohne Pastor, ohne Bestatter, ohne nichts, ist das korrekt
– Ja, wir wissen nicht, was wir da sollen, es ist alles so schrecklich.
– Das respektiere ich. Nun sehe ich, dass XY in der Kirche war, vielleicht war es ihm/ihr ja wichtig. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich bei der Beisetzung einfach mitgehe und ein Vaterunser spreche?
– Würden Sie das tun? Nein, da haben wir gar nichts dagegen, das wäre sehr nett.
– Danke. Es ist mir tatsächlich ein Anliegen, dass Mitglieder unserer Gemeinde nicht ganz ohne Gebet und Segen bestattet werden.
– Dürften wir denn dazukommen und einfach mitgehen?
– Ja, natürlich.
– Vielleicht auch ein paar Nachbarn und Freunde?
– Selbstverständlich. Aber meinen Sie nicht wir sollten uns dann nicht doch in der Kirche treffen…?

Am Ende steht oft eine komplette kirchliche Trauerfeier, mit Orgel, Liedern, Lebenslauf, Predigt, Gebet und Segen. Tatsächlich war auch Geld da, und das ruhige Gespräch mit ein paar Tagen Abstand zum Todesfall ermöglichte es den Trauernden, sich auf den Gedanken einer Trauerfeier einzulassen. Am Ende sind sie – bislang jedenfalls – immer sehr dankbar gewesen, diese Möglichkeit des Abschieds gehabt zu haben.

Aber wie machen wir das, wenn wir Kirchengemeinden in Regionen aufgelöst haben, Friedhöfe in kommunale Trägerschaft übergeben haben oder sie vom Kirchenkreis verwaltet werden? Müssen wir da auch kollektive Formen finden? Oder zumindest an unserem Totensonntag explizit auch all diejenigen einladen, die vielleicht keine individuelle Trauerfeiler wollten, aber ein gutes Wort an diesem Tag gut brauchen können?

Wir müssen Kontakt zu Bestattern aufnehmen. Wir müssen womöglich über Werbung nachdenken. Wir müssen natürlich auch gute Qualität abliefern – die Bestatter in meiner Gemeinde wissen, dass ihre Kunden mit Trauerfeiern von Kurowski zufrieden sind – und zufriedene Kunden sind gut fürs Geschäft.

Wir müssen aber auch theologisch reflektieren: Sind unsere Trauerfeiern (und sinngemäß auch die anderen Amtshandlungen) intime Segenshandlungen im engen Kreis einer kleinen verschworenen christlichen Gemeinschaft – oder sind sie ein öffentlicher Dienst an den Menschen, egal wie nahe sie der Kirche stehen?

Und pragmatisch: Kann es sein, dass es den Kirchensteuerzahlern gar nicht nur darum geht, dass sie selber kirchlich unter die Erde kommen, sondern dass es eben überhaupt das Angebot gibt, den letzten Gang mit Gottes Segen und kirchlichem Geleit anzutreten? Und sie gerne dafür zahlen, dass es möglichst allen zur Verfügung steht?

Ich jedenfalls habe meine Haltung um 180° gedreht. Solange wir so etwas wie Volkskirche sind, sollen wir für die Menschen da sein. Wir müssen die Anforderungen senken, die Hürden beseitigen, die Schwellen barrierefrei gestalten. Ja, wir müssen ihnen vielleicht sogar mit unserem Angebot hinterherlaufen. Aber ich bin überzeugt: Was ich anzubieten habe ist gut. Niemand, der es annimmt, wird es bereuen. Segen ist gratis.

Heidelbaer

3 Antworten zu „Die verlorenen Schafe”.

  1. Oha! Da war ich, was die Kasualien anging, offenbar immer noch auf dem Stand von vor zehn Jahren. Eine weitere Säule der Mitgliederschaft und der Einnahmen, die der Organisation Volkskirche wegbricht oder schon weggebrochen ist.

    Ist es richtig, den Leuten in dieser Hinsicht hinterherzuspringen? Ja, ist es.
    Ist persönliche Unterstützung, ein gewisser zeremonieller Rahmen hier wichtiger als christliche Lehre? Ja, eigentlich ist auch das Teil christlicher Lehre.
    Verwässert dadurch der vermittelte Glaubensgehalt weiter? Wahrscheinlich, und das tut der Kirche auch nicht gut.

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  2. Avatar von Konstanze Rüchel
    Konstanze Rüchel

    Hallo Philipp, ja ich würde sagen du denkst und handelst so, wie Jesus es getan hätte… ohne Vorschriften, Regeln oder Gesetze für den Menschen dasein… ihnen ohne Vorwurf oder Tadel Gott (wieder) nahe zu bringen… Gottes Segen für dich und deine Schäfchen.

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  3. Amen dazu.

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